Andy Holzer

Balanceakt

Blind auf die Gipfel der Welt

Patmos Verlag

Ihr seht Dinge, die vorhanden sind,

und fragt: »Warum?«

Aber ich träume von Dingen, die es nie

gegeben hat, und frage: »Warum nicht?«

GEORGE BERNARD SHAW

INHALT

Eine ganz normale Kindheit

Natürliche Auslese

Nur Ohren für Eine

Knie- und Schultersteine

Tod eines Freundes

Doppelblinde Seilschaft

Lieblingsfarbe: hellblau

Seven Summits

Cho Oyu

Wie im richtigen Leben

Dank

ICH TASTE MIT MEINER LINKEN HAND nach oben, um wieder sicheren Halt zu finden. Gott sei Dank kommt mir ein Griff in die Finger, weil ich schon spüre, wie der winzige Felsvorsprung, auf dem ich mit dem rechten Zehenballen stehe, ganz langsam unter mir zerbröselt. Das durchlebe ich in den letzten zehn Minuten nun schon zum vierten Mal. Trotz dieses erbarmungslosen Ausgesetztseins oder vielleicht gerade deswegen genieße ich meine Lage auf eine sonderbare Weise – weil ich erneut dabei bin, die Grenzen meiner Möglichkeiten weiter auszudehnen.

Dass ich mich dreißig Meter über dem Abgrund befinde, spüre ich ganz deutlich. Mein Sicherungsseil läuft an diesem Tag nicht gestrafft hinauf wie sonst, wenn Hans mich von oben sichert. Stattdessen hängt es von meinem Klettergurt in einem leichten Bogen schlaff nach unten. Beim Einstieg, auf einer abschüssigen Felsrampe, steht meine Mutter, die mir das Seil nachgibt und meinen Kletterkünsten blind vertraut. Was soll sie auch sonst tun, ist das doch ihre erste richtige Klettertour. Und sie hat keine Ahnung, wie man so eine Seilschaft händelt. Kurz vor unserem Einstieg in die Wand habe ich ihr noch schnell gezeigt, wie man den Bremsknoten macht, der das Seil im Falle meines Sturzes in ihrem Karabiner blockiert.

Mutter ist mit mir in der Früh zwei Stunden über teils wegloses Geröll bis zum Wandfuß der Teplitzerspitze hochgestiegen, weil ich für mein Vorhaben an diesem prächtigen Septembertag keinen anderen Partner gefunden hatte. Beim aufrechten Gehen bin ich auf die Geräusche eines Partners angewiesen, dessen Schritte ich akustisch analysiere. Auf diese Weise kann ich unterscheiden, ob mein Fuß beim nächsten Schritt auf einem festen Untergrund, einem schlüpfrigen Rasenflecken, einem schiefen Schotterpodest oder einem weichen Moospolster landen wird. Ich folgte also meiner Mutter, die in diesem mühsamen Gelände meine Führerin war. »Wir müssen jetzt hinauf zu diesem Schneefleck und dann leicht nach rechts in die zweite Schlucht von rechts«, erklärte ich ihr gemäß meiner virtuellen Landkarte, die ich im Gehirn gespeichert habe, und das genügte ihr, um uns zum Einstieg zu bringen. Ab dort war ich der Chef, weil ja nun meine Finger den jetzt senkrecht verlaufenden Boden ertasten konnten und ich plötzlich genügend Sinneseindrücke erhielt, um mich zu orientieren. Um die Moral unserer Seilschaft hochzuhalten, sagte ich meiner Mutter noch, dass es oben bald wieder flacher werden wird und wir dann leichter vorankämen.

Ich merkte schon sehr bald, dass es an diesem Tag ernst werden würde. Ein Schwefelgeruch, der entsteht, wenn das Gestein durch Erosion und wetterbedingte Einflüsse brüchig ist, und glitschige Wasserflecken in tieferen Einbuchtungen sind für mich Alarmzeichen. Es fühlt sich an, als kletterte man im Souvenirladen über ein gläsernes Regal und hielte sich an lauter Kaffeetassen und kleinen Blumentöpfen fest, die jederzeit mit einem in die Tiefe stürzen wollen. Trotzdem schiebe und drücke ich mich durch eine körperbreite Spalte immer höher. Mir kommt in den Sinn, was Hans gemeint hat, als er mir sagte, dass sich diese Nordwand für mich nicht eigne, weil der Fels so brüchig sei und schon sehende Kletterer hier ein großes Risiko eingingen. Trotzdem bin ich meinem unbändigen Kletterdrang gefolgt, habe meine eigene Mutter, eine Dame von über fünfzig Jahren, als Seilpartnerin eingeteilt und raufe nun ums Durchkommen. Einen kurzen Moment denke ich auch an einen Rückzug, was mir jedoch in meiner prekären Lage als reiner Selbstmord erscheint. Wenn man beim Hochklettern schon an der Grenze des Möglichen ist, dann ist ein Abklettern blanker Wahnsinn. Und irgendwo ganz tief in mir spüre ich ganz deutlich, dass kein Grund zur Panik besteht.

Mit meinem Kletterhelm stoße ich plötzlich gegen einen Überhang. Mir wird klar, dass ich am oberen Ende des Risses angekommen bin und mich meine Route nun nach rechts in nicht mehr ganz so steiles Gelände führen muss. Ich taste mich über die rechte Kante hinaus und versuche mich über einen Felshöcker, der sich anfühlt wie der Rand einer überdimensionalen Badewanne, hinüberzuschwingen.

Als ich mich dabei mit dem Fuß abstoße, löst sich wieder ein Fels­brocken, und ich glaube ins Leere zu fallen. Mir ist klar, dass ein Absturz an dieser Stelle nicht zu überleben ist, weil ich bis jetzt noch keine einzige Zwischensicherung eingehängt habe. Was heißt eingehängt, ich habe auch noch keinen Haken zum Einhängen gefunden. Intuitiv winde ich meinen Oberkörper und bekomme punktgenau eine fingerbreite Ritze zu fassen, die ich mir Sekunden zuvor beim Abtasten gemerkt habe. Im selben Moment höre ich weit unten den Felsbrocken irgendwo dumpf aufschlagen. Oh mein Gott, meine Mutter!

»Pass auf!«, ruft sie, und weil sie keine Sichtverbindung mehr zu mir hat, weiß sie auch nicht, wie hart ich kämpfe. Ich bin beruhigt, dass sie der Stein, dem sie gerade noch ausweichen konnte, nicht verletzt hat. Während ich ihr aufmunternde Worte zurufe, bewege ich mich die steile Felsrinne weiter nach oben.

Ich selber war noch nie in dieser Wand und ich klettere nur dem Bild in meinem Kopf nach. Wenn mir Menschen etwas beschreiben, bin ich nach einigen gezielten Rückfragen in der Lage, mir eine sehr genaue, ja sogar detailgetreue Vorstellung davon zu machen. Das Bild dieser Route habe ich aus Erzählungen anderer Bergsteiger für mich generiert, und nun hoffe ich, mich darauf verlassen zu können. Demnach müsste mein fünfzig Meter langes Kletterseil langsam zu Ende gehen und hier irgendwo müsste der erste fixe Stand mit zwei Felshaken sein. Meine Mutter bestätigt mir lautstark von unten, dass ich nur noch zwei Meter Seil habe, und ich weiß nun, dass ich dringend einen Standplatz finden muss, um mich festzubinden, meine Mutter am straffen Seil nachzusichern und dann die nächste Seillänge in Angriff zu nehmen. Bis jetzt habe ich noch nicht den mindesten Hinweis darauf gespürt, dass sich hier tatsächlich ein von Menschenhand eingeschlagener Haken befinden soll. Ich weiß also nicht, ob ich überhaupt in der richtigen Route bin, und werde langsam nervös. Es ist natürlich immer noch denkbar, dass meine gedachte Landkarte mit der tatsächlichen Topografie nicht übereinstimmt und mir mein Vorstellungsvermögen einen bösen Streich gespielt hat. Wie wild fingere ich mit beiden Händen an den Felsen herum, um diese verdammten Metallhaken endlich zu finden. Wenn meine Mutter jetzt losklettert, liegt auf einmal nicht nur mein Schicksal, nein, auch das Schicksal meiner Mutter ganz in meiner Hand. Meine Mundhöhle ist staubtrocken und mein Gaumen schmeckt bitter.

Als mich meine Mutter von unten immer wieder fragt, was los sei, weil sie an der stagnierenden Seilbewegung erkennt, dass irgendetwas nicht stimmen kann, versuche ich ihr mit entspannter Stimme zu vermitteln, dass ich mir nur die Schuhbänder knüpfen müsse. Ich weiß haargenau, dass ich es bin, der unsere trudelnde Seilschaft nun ins Lot bringen muss. Also konzentriere ich mich noch einmal ganz auf das, was mir Monate zuvor von anderen Bergsteigern über die Teplitzer Nordwand erzählt worden war. Natürlich hatten sie nicht im Traum daran gedacht, dass dieser verrückte Blinde diese Route nun als Seilführender klettern würde, denn sonst hätten sie wohl geschwiegen.

Hatte damals nicht einer gemeint, dass er die Haken mit der Hand fast nicht erreicht hätte und noch ein kleines Stück höher steigen musste, um den Sicherungskarabiner dort einzuhängen? Also strecke ich mit dem Karabiner in der Hand meinen Arm so hoch ich kann nach oben und höre endlich das metallische Klirren vom Standhaken. So schnell ich kann, klinke ich ihn ein und rufe mit selbstbewusster Stimme: »Nach­kommen!«

Nach kurzer Zeit höre ich von unten, dass meine Seilpartnerin ihren Aufstieg beginnt und ich sie nun am gespannten Seil die erste Seillänge bis zu mir herauf nachsichern kann. Schnell kehrt mein Urvertrauen zurück und ich bin stolz darauf, wie meine Mutter am anderen Ende des Seiles relativ flott heraufklettert, und ebenso stolz darauf, der Führer dieser besonderen Seilschaft zu sein.

Zwischen uns werden nicht viele Worte gewechselt, weil wir uns inmitten einer dreihundertfünfzig Meter hohen, wilden Felswand befinden. Ein Entkommen ist nur noch über den Weg nach oben möglich. Meine Mutter begreift schnell, dass sie unser Team nun nicht mit destruktivem, panischem Verhalten, sondern nur durch Zuversicht und gegenseitiges Vertrauen positiv beeinflussen kann. Immerhin haben wir noch zwölf Seillängen vor uns.

Ein kleiner Schock, den sie aufgrund ihres Augenlichts erst nur für sich verarbeiten muss, ist der Anblick der zweiten Seillänge. Sie führt über eine aalglatte Felsplatte, die steil ist wie ein gekipptes Fenster, horizon-tal hinüber. Meine Mutter kann nun die ganze Kletterstrecke bis zum nächsten Standplatz und die verschiedenen Zwischenhaken einsehen. Diese für sie ungewohnte Sicht in ein Labyrinth von Abgründen hilft nun wiederum mir, unsere zweite Seillänge zu meistern. Ihre kurzen Zurufe genügen mir zur groben Orientierung, und ich muss mich nur noch auf die Feinabstimmung meines Körpers, auf Tritte und Griffe konzentrieren. Die Überquerung dieser schrägen Platte bedeutet eine große Herausforderung für mich, weil meine Füße nicht mehr meinen Händen folgen können und ich keine Information darüber habe, wie es unter meinen Sohlen aussieht. Ich bringe diesen Balanceakt jedoch hinter mich und freue mich über eine zwanzig Meter lange, handbreite Spalte, die mir den Weg durch diese Plattenwand bis hoch zum Standplatz weist. Wieder das Hantieren mit Haken und Karabinern, Seil einhängen, das Kommando »Nachkommen!« und schon darf sich meine Mutter, von mir gesichert, ein paar weitere Schritte dem Gipfel nähern.

Stunde um Stunde vergeht, eine Seillänge folgt auf die andere. Unsere Seilschaft hat sich lange schon auf ihre Stärken und Schwächen eingestellt, und nur noch vierzig Höhenmeter trennen uns vom höchsten Punkt. Nun lasse ich meiner Mutter den Vortritt. Ungläubig schaut sie mich an. Schaut mich an? Ich registriere das anhand ihrer Atmung, der wärmenden Ausstrahlung ihrer Haut und anderer mir teils unbewusster Signale, die mir sagen, wie ihr restlicher Körper positioniert ist.

Meine Mutter war schon immer eine selbstbewusste Frau und steigt wirklich die letzten Meter der Steilwand hinauf, um dann nach wenigen Schritten die kleine Gipfelfläche zu erreichen. Ein aus tiefster Brust ­ertönender Juchzer von oben bestätigt mir, dass dies auch für meine Mutter einer der schöneren Tage in ihrem Leben sein muss

EINE GANZ NORMALE KINDHEIT

AMLACH, MEIN HEIMATDORF, ist eine Dreihundert-Seelen-Gemeinde, ein kleines, idyllisches Nest in Osttirol. Zwischen schroffen Dolomitenzacken im Süden und den wildromantischen Gebirgszügen der Hohen Tauern im Norden liegt es sanft eingebettet im flachen Talboden von Lienz und wird vom schützenden »Amlacher Waldele« umrahmt. An diesem verträumten Platz ist mein Vater auf dem Hof seiner Eltern erwachsen geworden und hat sich zusammen mit meiner Mutter, die aus Lienz stammt, und mit seinem Bruder Alois und dessen Frau Christl ein Zweifamilienhaus gebaut. 1961 heirateten meine Eltern und zogen in das mit viel Mühe geschaffene Eigenheim ein. Mein Vater war Briefträger und meine Mutter Textilverkäuferin, und so hatten sie alle Hände voll damit zu tun, sich diese gemeinsame Bleibe zu schaffen. Im Mai 1963 kam dann endlich das erste Kind zur Welt, ein Mädchen. Als meine Mutter nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause kam und meine Schwester Elisabeth im Gepäck hatte, war im Hause Holzer die Stimmung nicht zu überbieten.

Nur wenige Tage konnten meine Eltern dieses Glücksgefühl genießen, bevor die Schreckensmeldung eintraf: Der Bruder meiner Mutter sei von seiner Tour noch immer nicht zurückgekehrt, obwohl es schon finstere Nacht war und er am nächsten Morgen zur Arbeit musste. Onkel Franz war ein begeisterter, ja beseelter Bergsteiger und hatte mit seinen zarten siebzehn Jahren schon so manche schwere Route gemeistert. Er wollte das lange Pfingstwochenende für mehrere Tagestouren hintereinander nutzen, um dem Alltag beim Klettern im warmen Dolomitenfels für eine Weile zu entkommen. Am Samstag war er ganz alleine aufgebrochen und jetzt war Montagnacht, doch von Onkel Franz gab es keine Spur.

Dass irgendetwas nicht stimmen konnte, war meinen Eltern sofort klar, konnte man sich auf ihn doch immer hundertprozentig verlassen. Am Dienstagnachmittag kam dann die traurige Nachricht, dass mein Onkel in der Hochstadel-Nordwand, einer knapp 1400 Meter hohen Felswand am östlichen Rand der Lienzer Dolomiten, von einer Schnee- und Steinlawine in den Tod gerissen worden war. Mein Großvater war selbst ein guter Bergsteiger und half der Bergrettung bei der Suche nach seinem Sohn.

Innerhalb einer guten Woche das erste Kind zur Welt zu bringen und den eigenen Bruder zu verlieren, das muss für meine damals einundzwanzigjährige Mutter eine Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen sein. Mein Vater, vierzehn Jahre älter als sie, hat damals alles Erdenkliche getan, um seiner Frau in dieser harten Zeit beizustehen.

Die zweite schwere Prüfung erwartete das junge Ehepaar, als die Ärzte nach einigen Untersuchungen die lähmende Diagnose ­»Retinitis pigmentosa« für ihre Tochter Elisabeth stellten.

Die »RP«, wie diese schwere Augenerkrankung in der Medizin abgekürzt wird, ist eine irreparable Netzhauterkrankung, die häufig zur völligen Erblindung führt. Bei diesem Netzhautschaden fehlen die Stäbchen und Zäpfchen im menschlichen Auge teilweise oder vollständig. Diese lichtempfindlichen Sehzellen wandeln das optische Bild, das durch die Pupille auf die Netzhaut im Augenhintergrund projiziert wird, in elektrische Signale um und schicken es über den Sehnerv in das Gehirn.

Elisabeth wird erblinden, das war die bittere Erkenntnis für meine Eltern, dabei hatten sie noch nicht einmal bemerkt, dass mit den Augen der Kleinen etwas nicht in Ordnung war.

Meine Schwester hat eine Form der RP, bei der sich das Gesichtsfeld langsam von der Peripherie in Richtung Zentrum ­einengt, weil die Sehzellen vom äußeren Rand der Netzhaut aus abzusterben beginnen. Bis in die Pubertät hinein konnte sie noch etwas sehen, die Bilder dieser Welt genießen, wenn auch nur mit dem sogenannten Tunnelblick, ein im Durchmesser sehr stark eingeschränktes Gesichtsfeld, als schaue man durch eine Röhre. Elisabeth hat sich schon als Baby so auf das Leben mit viereinhalb Sinnen eingestellt, dass sie die optischen Ausfälle zunehmend durch Informationen der anderen Sinnesorgane kompensieren konnte. Sie hantierte genau wie ein normal sehendes Kind mit ihren Spielsachen, und wenn ihr etwas hinunterfiel, griff sie recht zielstrebig danach, weil sie ja genau hörte, wo es hinfiel. Sie fand sich in ihrer gewohnten Umgebung sehr gut zurecht. Erst als Elisabeth über zwei Jahre alt war und die Eltern mit ihr die ersten Ausflüge machten, fiel in bestimmten Situationen ihr eigenartiges Verhalten auf. Meine Schwester reagierte zum Beispiel nicht, wenn ihr mein Vater aus dem fahrenden Auto ein weidendes Pferdchen zeigte.

Wenn dann jedoch der Wagen abgestellt wurde und der Motorenlärm verstummte, wurde das Tier für sie plötzlich interessant und es gab kein Halten mehr. Diese eigenartigen Wahrnehmungsstörungen machten meine Eltern stutzig, und so gingen sie der Sache auf den Grund. Eine Augenerkrankung kam zunächst selbst den Ärzten nicht in den Sinn, weil sich Elisabeth diesbezüglich ja ganz unauffällig verhielt. Man vermutete sogar, dass ihr sonderbares Verhalten mit einer Geisteskrankheit zusammenhängen könnte. Bis dann ein Augenarzt die richtige Ursache herausfand und meiner Mutter sagte, dass ihre Tochter erblinden würde. Meine Eltern sollten wissen, dass jedes weitere Kind dieselbe Erkrankung, sogar in einem noch fortgeschritteneren Stadium, mit auf den Weg bekommen würde. Diese Hiobsbotschaft kam für meine Mutter allerdings zu spät, weil das zweite Kind schon unterwegs war. Und das war mein Glück. Es war der 3. September 1966 um null Uhr 22, als mich meine Mutter im Krankenhaus in Lienz zur Welt brachte.

ALS WILLE GOTTES ODER ALS LAUNE DER NATUR, egal, wie sich meine Eltern die Krankheit ihrer beiden blinden Kinder damals erklärt haben, in Verzweiflung gerieten sie darüber nicht. Im Gegenteil, sie entwickelten eine Kraft, für ihren Nachwuchs zu kämpfen, wie man es von Löwen kennt. Ganz intuitiv, ohne Unterstützung von Fachleuten, erkannten sie, dass ein ganz normaler Umgang das einzig Richtige war, um ihren Kindern ein erfülltes Leben zu ermöglichen. So wurde ich nicht besonders gewarnt, wenn ich mit meinem Kopf nur noch fünf Zentimeter von der Kante des Küchentisches entfernt war, weil ich dort, wenn es richtig wehtat, sicherlich nur einmal anstoßen würde.

Mein Kinderzimmer, unser Wohnzimmer, unsere Küche, das Badezimmer, den Flur und das Treppenhaus sondierte ich automatisch mit meinen Händchen, Beinchen und den sensiblen Sinneszellen meiner Haut, die mir an jeder beliebigen Stelle meines Körpers schmerzlich anzeigten, wo mir ein Hindernis im Wege stand.

Eine gezielte Untersuchung meiner Augen ergab, dass ich als zweitgeborenes Kind noch schwerer von dieser Augenkrankheit betroffen war als meine Schwester, genau so, wie es die Ärzte schon vor meiner Geburt prophezeit hatten. Das war für mich nicht unbedingt ein großer Nachteil, weil ich mich von Anfang an auf das Sehen mit Ohren, Nase und meinen restlichen Sinnen einstellen konnte. Mit Leichtigkeit jonglierte ich mich schon als Kleinkind durch meine »Dunkelheit«. Es war, wie zweisprachig aufzuwachsen.

In den ersten Lebensmonaten lernt der Mensch so viel binnen kurzer Zeit wie in späteren Jahren nie mehr wieder. Meine Anpassung an die sehenden Menschen war daher schon im Kleinkindalter so weit fortgeschritten, dass meine Blindheit für meine Spielkameraden nie ein Thema gewesen ist. Sie ist ihnen nie ­sonderlich aufgefallen. Meine Spielgefährten waren damals die Kinder der Geschwister meines Vaters, also meine Cousins und Cousinen, die alle in unmittelbarer Umgebung in Amlach lebten.

»Der Andy sieht schlecht«, wurden sie von ihren Eltern informiert. Doch diese Warnung war für sie genauso unwichtig wie für mich selber, weil es ja praktisch keine Defizite bei unserem gemein­samen Herumtollen gab. Jeder von uns war eben anders als der andere, und so wussten wir genau, was man mit wem anstellen konnte. Wenn es zum Beispiel um ein Ballspiel ging, bei dem ich ohne Augenlicht immer nur verlieren konnte, hatte ich gerade keine Lust dazu. Genauso wie der Franz gerade keine Zeit hatte, wenn wir ein Wettrennen im Sackhüpfen veranstalteten. Franz war nach sechs Monaten als Frühchen mit gerade mal 975 Gramm Körpergewicht zur Welt gekommen und im Vergleich zu uns anderen von relativ schwacher Konstitution. Und so versuchte eben jeder von uns, seine Schwäche zu verbergen, um seinen Stellenwert in der Gruppe nicht zu verlieren.

Kompliziertere Aktionen wie das Heuhüpfen, bei dem wir in der Tenne meines Onkels von der obersten Etage präzise durch die Lücken einer Zwischendecke sprangen, um dann im Heuhaufen im untersten Geschoss zu landen, konnte ich nur mit Karli oder Hannes angehen. Meine beiden Cousins hatten die nötige Gewandtheit, sich beim Springen im richtigen Augenblick so zu winden und zu drehen, dass sie mit keinem ihrer Körperteile an den staubigen Holzbalken anschlugen. Nebenbei hatten die beiden eine ganz besondere Art, mir gerade so viel Information zukommen zu lassen, dass auch ich ohne schwere Verletzung durchkam.

Für mich war der Tonfall ihrer Stimmen entscheidend. Daran erkannte ich, ob Spitzen rostiger Nägel meinen Durchschlupf seitlich einengten, also Gefahr lauerte, oder ob freie Bahn für mich vorlag. Auf den Tonfall kam es deshalb an, weil sie mich nie direkt vor solchen Gefahren warnten, sondern sich einfach auf meine Wahrnehmung verließen. Warum auch, der Andy bekommt das eh alles mit, haben sie wohl gedacht. Indem sie mir das zutrauten, taten sie mir einen großen Gefallen.Das Johlen und Schreien von Hannes und Karli genügte mir, um den Raum für mich zu analysieren und meinen Sprung richtig zu trimmen. So landete ich haarscharf neben ihnen im Heuhaufen.

Eine andere große Herausforderung bestand darin, mit meinem Onkel und dessen Kindern die Kühe von der Weide in den Stall zu treiben. Onkel Hans war der älteste Bruder meines Vaters, der den Bauernhof von meinem Großvater übernommen hatte. Er war Vater von fünf Kindern: Hannes, Magdalena, Matthias, Gertraud und Seppi. Die Viehweide lag am Dorfrand, und es war nicht einfach, die störrischen Rinder ohne Zwischenfälle durch die schmalen Gassen von Amlach nach Hause zu treiben. Bei den Hofeinfahrten wollten sich die Tiere in den Gemüsegärten der Bäuerinnen bedienen oder ihre Sehnsucht nach anderen Artgenossen bei den Nachbarbauern stillen. So liefen wir Kinder voraus, um an neu­ralgischen Stellen mit einem Haselstock in der Hand die kleine Herde von zwanzig Kühen auf dem richtigen Weg zu halten. Onkel Hans ging meistens hinter seinen Wiederkäuern her und gab uns Anweisungen, wie wir uns aufstellen sollten.

Wenn mich mein Onkel dann aufforderte, eine Abzweigung zu einem fremden Gehöft zu versperren, geriet ich ganz schön in Stress, weil ich nun alleine für diese Problemstelle zuständig war und die Verantwortung dafür spürte. Es war für mich schwierig, nur nach Gehör zu unterscheiden, ob nun eine Kuh schon hinter mir, praktisch im Sperrgebiet, oder doch noch knapp auf der Dorfstraße vor mir die Stelle passierte. Die Akustik spielte mir oft einen Streich, weil die Tritte der vielen Paarhufer im Gemäuer der Bauernhäuser widerhallten und mir ein falsches Klangbild übermittelten. Dass Onkel Hans schimpfte, wenn auf mich kein Verlass war, tat ein Übriges, um mich zu noch mehr Konzentration anzuspornen.

Die Erwachsenen gingen damals mit mir genauso unkompliziert um wie die Kinder, weil sie aus meiner Körpersprache keine größere Einschränkung ableiten konnten. Sie wussten zwar, dass Elisabeth und ich praktisch blind waren, schenkten dem aber keine sonderliche Beachtung. Es kam auch vor, dass ich mit meinem Haselstock noch dastand, obwohl die kleine Gesellschaft von Rindviechern schon an mir vorbeigezogen war, und das, was ich hörte, war eine Gruppe Touristen, die sich unserem Viehtrieb angeschlossen hatte.

Erst wenn die Kühe im Stall standen, erholte ich mich von meiner heimlichen Anspannung. Richtig wohl fühlte ich mich erst wieder, wenn ich auf Tuchfühlung mit den Pinzgauern und dem Fleckvieh war und ihnen mit dem Striegel das Fell reinigte. Die Kühe waren im Stall dicht nebeneinander angekettet. Ich spürte ihre Körperwärme und die kleinsten Bewegungen dieser großen Geschöpfe. So konnte ich erahnen, ob sich meine Kuh im nächsten Moment hinlegen oder sich in eine andere Richtung bewegen würde. Das gab mir Sicherheit. Ich spürte auch, ob das sechshundert Kilogramm schwere Tier mit meiner Behandlung zufrieden war oder ob es sich gerade unwohl fühlte.

Kinder aus der nahen Stadt, die wir manchmal in den Stall mitnahmen, bewunderten meinen Mut, mich so nah bei den Kühen aufzuhalten, obwohl ich diesen Riesenviechern nur bis zu den Hüftgelenken reichte. Ich konnte geschmeidig unter ihren »Banzen«, ihren Bäuchen, hindurch auf die andere Seite schlüpfen, was noch größeres Staunen hervorrief.

Improvisieren war für mich angesagt, wenn Hannes und ich im Winter eine Sprungschanze bauten, damit wir mit unseren Schiern Weitsprung üben konnten. Als die Schanzen noch eher klein waren, fiel es mir leicht, den Anlauf, den Schanzentisch mit der Absprungkante und den Bereich der Landung zu berechnen. Erst als wir größer wurden, mussten auch unsere Sprungschanzen immer höher und unsere Sprünge immer weiter werden. Damit nahm auch die Geschwindigkeit zu, und ein Sprung wurde für mich allmählich zu einem unkoordinierten Höllenritt ins Ungewisse, weil die angestrebten Höchstweiten bereits jenseits von zwanzig Metern lagen.

Schon in der Anlaufspur strauchelte ich manchmal, und den Schanzentisch traf ich oft nur mit einem Schi. Ein fürchterlicher Sturz war dann nicht mehr aufzuhalten. Die Zuschauer, also die Kinder aus dem Dorf, interessierten sich für unser Treiben. Sie waren begeistert, wenn Andy, der »wilde Hund«, die Sau rausließ. Ich sagte ihnen ja nicht, dass ich die Schanze gar nicht sehen konnte, sondern tat einfach so, als ob mein Straucheln eine geplante Gaudi-Aktion gewesen sei. Für mich wäre es das Schlimmste gewesen, wenn ich meinen Status als pfiffiger Kerl mit genialen Einfällen – natürlich ohne Schwächen – verloren hätte.

Bald merkte ich, dass ich so auf die Dauer nicht mehr mithalten konnte und mein Ansehen in unserer Rasselbande verlieren würde, wenn ich mir nicht etwas einfallen ließe, um meine Missgeschicke zu minimieren. Dazu nutzte ich das neue Farbfernsehgerät, das seit Kurzem in unserem Wohnzimmer stand. Damals lief die Direktübertragung der Olympischen Winterspiele in Innsbruck, und täglich saß ich vor dem Bildschirm, um möglichst viele Titelkämpfe live zu verfolgen. Es regte mich immer auf, wenn ein langweiliger Kommentator dran war, weil ich meine Informationen ausschließlich von ihm und vom Platzlautsprecher im Hintergrund empfing. Der Lärm des Publikums und das schürfende Geräusch der Schier auf der Schanze genügten mir, um die Weite des Fluges zu schätzen. Der zeitliche Abstand vom Absprung am Schanzentisch bis zur Landung war deutlich zu hören, und so war es für mich einfach zu erkennen, ob ich mich über eine große Weite meines Favoriten freuen konnte oder mich über seinen verpatzten Sprung ärgern musste.

Der Jubel oder das Raunen der Zuschauer bestätigten mir mein jeweiliges Hörbild. Der missglückte Sprung eines Koreaners sollte mir für meine eigene Karriere als Schispringer besonders zugutekommen. »Um Gottes willen! Knapp am Tannenreisig vorbei­geschrammt«, so kommentierte der Sprecher das Missgeschick des Asiaten, und ich fragte meinen Vater, was Schispringen denn mit Tannenreisig zu tun habe. Da erklärte er mir ganz beiläufig, dass die Organisatoren am Rand der Anlauf- und der Landezone Tannenzweige in den Schnee gesteckt hätten, damit der Sportler bessere Sicht habe und seinen Sprung gut berechnen könne. ­Umgehend setzte ich meine neue Erkenntnis in unser Projekt Schispringen um und sagte zu Hannes, dass wir Tannenzweige holen und im Abstand von einem Meter beidseitig der Anlaufspur in den Schnee stecken sollten. Seine Frage, wozu das gut sein sollte, beantwortete ich mit der Gegenfrage, ob er denn am Tag zuvor nicht im Fernsehen gesehen hätte, dass die richtigen ­Schispringer auch Tannenzweige zur Kontrastverbesserung ­verwendeten. Für mich war es natürlich nicht der Kontrast, der mich an dieser Idee begeisterte, sondern die größere Chance, überhaupt die Anlaufspur und den Schanzentisch zu treffen. Wenn ich von der Spur abkam, würde ich das an den Tannenzweigen merken, die dann meine Beine streifen würden. Mit diesem simplen Trick konnte ich meinen Kurs augenblicklich wieder korrigieren.

Unsere Sprunganlage wirkte nun mit den grünen Tannenzweigen im weißen Schnee viel professioneller. »Das war wieder eine gute Idee vom Andy«, meinten meine Freunde. Dass ich nun plötzlich wieder pfeilgerade über den Schanzentisch sauste, fiel weiter keinem auf. Nur ich selbst freute mich nach jedem gelungenen Sprung still und heimlich über diese geniale Idee.

Ein ganz besonderes Spektakel war es für die Holzers, als es hieß, das Dach unseres Hauses neu einzudecken. Durch die ­großen Schneemengen im Winter und die ausgeprägten Tempera-turunterschiede im Laufe des Jahres wird es von Zeit zu Zeit ­notwendig, die in Mitleidenschaft gezogene Ziegeldeckung auszutauschen. Die Nachbarschaftshilfe wurde in Amlach immer großgeschrieben und so war es klar, dass sich das Leben nun für einige Tage auf dem steilen Dach meines Elternhauses abspielen würde. Für meine Eltern war es unmöglich, den kleinen Andy davon auszuschließen, und so saß ich mit einem Hammer und einigen ­Nägeln ausgerüstet, genau wie mein Vater, Onkel Lois, Karli, Hannes und die anderen Helfer, oben am offenen Dachstuhl.

Mit meinen Fingern tastete ich den Quadratmeter, auf dem ich mich gerade befand, nach den schmalen Dachlatten ab, damit ich nicht dazwischen in die Tiefe fiel. Spielraum gab es für mich im Gegensatz zu den anderen in dieser Situation fast keinen, weil schon eine falsche Bewegung auf der dünnen Lattung einen Absturz bedeuten konnte. Je weiter die Arbeit fortschritt und je mehr sich die Dachhaut schloss, desto größer wurde meine Bewegungsfreiheit, und ich konnte beim Verteilen der neuen Dachziegel tatkräftig mithelfen. Die Ziegel wurden in kleinen Stapeln auf der Dachfläche deponiert, damit der Dachdecker, der aus dem Nachbardorf engagiert worden war, möglichst kurze Wege zum Material hatte.

Meine Mutter und mein Vater wurden von den Menschen im Dorf natürlich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass der Andy ja nicht gut sehen würde und sich trotzdem oben am Dach herumtreibe. Tante Leni, die Schwester meines Vaters, die direkt gegenüber wohnte, zündete immer Kerzen an, wenn sie solche gefährlichen Aktivitäten beobachten musste, damit der Herrgott seine schützende Hand über mich hielt.

DER HERRGOTT SPIELTE IN MEINER KINDHEIT eine große Rolle, weil der Glaube und der Kirchgang bei uns sehr gepflegt wurden. Ich sehe es als schöne Fügung, dass das Gotteshaus von Amlach ausgerechnet der heiligen Ottilie geweiht ist. Die heilige Ottilie ist nämlich als Patronin für die Augenleidenden und blinden Menschen auf dieser Welt zuständig. Der sonntägliche Gottesdienst gehörte zum ganz normalen Wochenablauf, und so saß ich als kleiner Junge zwischen den flauschigen Sakkos meines Vaters und anderer Erwachsener hinten rechts in den Männerbänken unseres Kirchenschiffes.

Meine Schwester wartete währenddessen neben meiner Mutter in den Frauenbänken die Predigt des Herrn Pfarrers geduldig ab. Anstrengend wurde der Gang in unsere Kirche für mich erst später, als wir Kinder nicht mehr hinten bei den Erwachsenen sitzen wollten, sondern vorne in den Jugendbänken bei den anderen Kindern von Amlach. Von nun an war extreme Konzentration erforderlich, damit ich mich in dieser heiligen Stille, verfolgt von den zahlreichen Blicken der versammelten Gemeinde, möglichst unauffällig zur richtigen Kirchenbank vortasten und dort Platz nehmen konnte. Es war für mich schwierig festzustellen, in welcher Reihe meine Cousins am jeweiligen Sonntag saßen, und so kam es auch vor, dass ich in der falschen Bankreihe landete. Das war dann immer ein peinlicher Moment, wenn ich mich nicht neben Hannes, Franzi oder Karli wiederfand, sondern eine mir unbekannte Körperausdünstung neben mir feststellte.

Noch schlimmer wurde es für mich, wenn ich nach der heiligen Kommunion, zu der man sich von der Kirchenbank erheben und ehrfürchtig den Altarraum betreten musste, meinen Sitzplatz wiederfinden wollte. Ich nutzte dann das Gedränge der Menschenmenge, weil ich mich so unmerklich vom einen zum anderen tasten konnte.

Das Fest der Erstkommunion, bei dem junge Christen im Alter von acht Jahren zum ersten Mal die heilige Eucharistie empfangen dürfen, bereitete mir großes Unbehagen. Wir waren damals fünf Erstkommunikanten aus Amlach und hatten im vorderen Bereich unserer Ottilienkirche Platz genommen, ganz ähnlich, wie es das Brautpaar bei der kirchlichen Trauung tut. Wie auf dem Präsentierteller fühlte ich mich von der ganzen Festgesellschaft bei jeder meiner zaghaften Bewegungen beobachtet. Der Programmablauf dieser feierlichen Zeremonie war Schritt für Schritt mit unserem Herrn Pfarrer einstudiert und es durfte ja nichts schiefgehen. Die fünf Erstkommunikanten mussten sich im richtigen Moment erheben, niederknien oder gemeinsam einige Zeilen eines Textes vorlesen.

Nach dem Gottesdienst schritt ich mit meinen vier Freunden stolz aus der Kirche und es ging gleich weiter zum Fotografen, der diesen einmaligen Tag in meinem Leben bildlich festhalten sollte. Ich stand da, in meinem stilvollen, olivgrünen Anzug mit Fliege, meine Taufkerze in der Hand, wie es sich für einen strammen Jüngling an so einem großen Tag eben gehörte.

Allzu entspannt dürfte mein Blick allerdings nicht gewesen sein, weil mich der Fotograf immer wieder zum Lächeln und zu einem Blick in die Kamera aufforderte. »Hierher! Daher!, kannst du nicht gradaus schauen? Schau mal dorthin!« Mit solchen Befehlen wurde ich gequält. Eine ganze Weile konnte ich mich trotz der kränkenden Bemerkungen des Fotografen über meinen unkoordinierten Blick noch beherrschen, bis endlich meine Geduld erschöpft war und meine Traurigkeit sich in einem Weinkrampf Luft verschaffte.

Ein mentaler Kraftakt war für mich jedes Jahr das Fronleichnamsfest, das mit einer Prozession begangen wurde. Dabei bewegte sich eine lange Menschenkette, beginnend mit dem Kreuzträger, dem Kirchenchor, der hohen Geistlichkeit, gefolgt von Trägern der Heiligenfiguren, der Musikkapelle und dem Volk durch die Wiesen und über die Wege von Amlach. Betend, im Takt von getragener Musik, gingen die Männer getrennt von den Frauen und den ­Jugendlichen. An bestimmten Plätzen im Dorf, an denen weiß ­gedeckte Tische mit oppulentem Blumenschmuck aufgebaut waren, blieb die Prozession stehen und der Pfarrer verkündigte unter freiem Himmel das heilige Evangelium. Die Herausforderung für mich bestand darin, dass ich nicht irrtümlich aus der Reihe der Gläubigen trat. Solange es still war, konnte ich meinen Weg durch die Schrittlaute meiner Vorder- und Hinterleute recht gut voraussehen. Doch wenn die Musikkapelle mit ihren Pauken und Trompeten den Festakt zu untermalen begann, drohte meine Ortung in der Menschenreihe völlig zu versagen. Ich musste schon alle meine Ressourcen aktivieren, um dieses Fest zu überstehen, ohne großes Aufsehen zu erregen, und um meinen Platz in der langen Schlange der Gläubigen zu behalten und im Gleichschritt mit ihnen zu marschieren.

MEINE ELTERN HABEN SICH STETS BEMÜHT, uns blinden Kindern ein ganz normales Leben mit all seinen Facetten zu ermöglichen. Sie haben versucht, uns das Schifahren, das Eislaufen, das Schwimmen genauso wie das Radfahren und das Rodeln beizubringen, eben all das, was ein Kind bei uns in Osttirol so machte.

Mein Gleichgewichtsorgan hat immer schon ausgezeichnet funktioniert, und es war für mich kein großes Problem, auf Schiern, Roll- oder Schlittschuhen zu stehen. Auch die Stützräder meines Kinderfahrrades wurden bald schon abmontiert. Die Schwierigkeit lag einzig und alleine in der Frage, wohin ich fahren sollte, weil ich ja auf diesen Sportgeräten keinen direkten Bodenkontakt mehr hatte und so schnell die Orientierung verlor. Meine Fußsohlen gaben mir keine Information über den Untergrund, und bald wurde mir klar, dass ich mit anderen Sinnen erkennen musste, wo ich mich befand.

Schließlich hatte ich doch noch vier andere, und schon das schleifende Geräusch der Schier meines Vaters genügte mir, um so recht und schlecht den Schihang hinunterzukurven. Nach der zweiten oder dritten Abfahrt kamen mir die einzelnen Unebenheiten der Piste schon bekannt vor und ich berechnete, wo ich die nächste Kurve machen musste, um nicht im Abseits zu landen. Es machte mir Spaß, dem Bild, das ich mir von der Strecke im Kopf schon ausgemalt hatte, mit vollem Körpereinsatz nachzufahren. Ein Schi-Rennläufer, der sich den Kurs vor dem Start x-mal durch den Kopf gehen lässt, tut eigentlich genau dasselbe.

Der Einstieg beim Schlepplift machte mir oft Schwierigkeiten, weil ich nicht wusste, wann der Bügel kam und in welche Richtung die Fahrt dann ging. Wenn ich die Zugrichtung auch nur um wenige Grade falsch berechnet hatte, wirkten gleich enorme Kräfte, die meinen Körper an den Rand der Liftspur zerrten, und ich hatte große Mühe, mich am Bügel festzuhalten. Nicht nur einmal flog ich bei solchen Manövern mit meinem Vater aus der Spur, was prompt mit hämischem Kichern der anderen Schifahrer quittiert wurde.

Im Laufe der Zeit prägte ich mir die einzelnen Stellen unserer Schigebiete detailgetreu ein. Egal, ob es sich um einen schrägen Übergang, eine eisige Stelle oder die Querung einer Lifttrasse handelte, ich wusste nun immer ganz genau, wo ich mich befand. Sonntag für Sonntag konnte meine Familie mit mir diese herr­lichen Wintertage genießen, und meine Blindheit wurde nie zu einem Problem gemacht.

In den Sommermonaten war neben dem Kuhstall, dem Heustadel oder unserem Garten das Amlacher Waldele der Spielplatz von uns Kindern. Mit Hannes kroch ich auf dem weichen Waldboden herum, um möglichst gleichmäßig gewachsene Ästchen zu sammeln. Damit bauten wir in einer Art Blockbauweise kleine Bauernhöfe. Ich steckte zwei kurze Stäbchen so knapp nebeneinander in die Erde, dass ich ein drittes dazwischenlegen konnte. Eine Armlänge weiter machte ich dasselbe und im richtigen Winkel dazu noch einmal, bis der Grundriss meines Häuschens geschaffen war. Jetzt brauchte ich nur noch längere Ästchen für die Wände. Um die Fenster und die Türöffnungen zu bilden, war besondere Kreativität nötig. Das Dach bauten wir mit Baumrinde, die wir von alten, schon umgefallenen Bäumen ablösten. Auch einen Zaun bastelten wir, und Tannenzapfen spielten die Rolle unserer Kühe. Jeder von uns war mächtig stolz darauf, den schöneren Bauernhof als der andere gebaut zu haben.

Ich wusste natürlich nur, wie mein eigenes Werk aussah, weil ich ja jedes Teil selber in den Händen gehalten hatte. Was mein Cousin Hannes fabrizierte, konnte ich nicht so genau feststellen, da ich es nicht mit meinen Fingern abtasten konnte. Es wäre mir peinlich gewesen, wenn ich sein fragiles Gebilde mit einer ungeschickten Bewegung zerstört hätte. Mir blieb neben meiner Fantasie also nur seine Beschreibung, um mir ein Bild von seiner Kreation zu machen.

DER REGELMÄSSIGE BESUCH BEIM AUGENARZT ging mir auf die Nerven. Ich verstand einfach nicht, was der Herr Doktor bei mir finden wollte. Dass ich nicht gut sah, hatte ich doch schon oft genug von meinen Eltern sowie von den Leuten im Dorf gehört, und es war eine lästige Prozedur für mich, den Druck der harten Linse des Untersuchungsgerätes auf meiner Hornhaut zu ver­kraften.

Bei der Augenspiegelung, einer genauen Untersuchung des ­Augenhintergrundes, wo sich die Stäbchen und Zäpfchen befinden, presst der Ophthalmologe sein Instrument auf den Augapfel, um das Gewebe der Netzhaut zu betrachten. Das empfand ich als extrem unangenehm, und manchmal wurde ich davon ohnmächtig. Dabei hatte ich das beklemmende Gefühl, dass mir jemand mit dem Korkenzieher ins Auge bohrte und den Augapfel umdrehen wollte. Da ich von klein auf sehr empfindlich an den Augen war, habe ich diese kleinen Eingriffe wahrscheinlich als viel schlimmer empfunden als andere Kinder.

Wenn sich der Doktor nach diesem Martyrium dann von seinem Sessel erhob und meinen Eltern mitteilte, dass sich seit der letzten Kontrolle nichts geändert hatte, sank die Stimmung im Arztzimmer jedes Mal auf einen Tiefpunkt. Die Hoffnung, dass sich meine Netzhaut vielleicht regenerieren könnte – was aus medizinischer Sicht blanker Unsinn war –, wollten meine Eltern als Letzte aufgeben. Mir selber war die Tragweite meiner Situation nicht im Ansatz bewusst, hatte ich doch bisher ein wunderbares Leben ohne Einschränkungen geführt.

Als sich das Gespräch nun allerdings um Blindenschule und Blindenheim drehte, wurde ich hellhörig. Solche Spezialeinrichtungen für blinde Menschen ermöglichten eine behindertengerechte Ausbildung, und dies sei die einzige Chance, aus dem kleinen Jungen doch noch was Vernünftiges zu machen. »Wenn Sie nicht wollen, dass der Andreas ein Depp bleibt, müssen Sie ihn dorthin ­schicken«, lautete der dringende Appell des Herrn Doktor an meine Eltern. Nicht der Schultyp oder der Status einer solchen Institution trieb mir die Tränen in die Augen, nein, es war die Angst, meine Welt in Amlach verlassen zu müssen und meine Schulzeit mehrere hundert Kilometer entfernt zu verbringen. Zu Hause fiel ich beim Schlafengehen meiner Mutter um den Hals und verlangte auf der Stelle die verbindliche Zusage von ihr, mich ja nicht von daheim wegzugeben. Das versprach sie mir sofort. »Wir geben dich nicht fort, auch wenn du ein Depp dabei wirst«, sagte meine Mutter. Die Entscheidung meiner Eltern, mich nicht auf eine Blindenschule zu schicken, war eine markante Weichenstellung für meinen weiteren Lebensweg.

VIEL ZU SCHNELL VERGINGEN meine wunderschönen Kinderjahre, und eine für mich nicht abschätzbare Bedrohung rückte immer näher. Meine gleichaltrigen Spielkameraden konnten es kaum erwarten, bis sie mit ihrer neuen Schultasche zum ersten Mal ausrücken durften, während ich mich heimlich vor diesem Mysterium fürchtete.

Die Schule erschien mir als Bedrohung, weil das bedeutete, dass ich alle meine bisher angewandten Techniken umstellen musste, wollte ich nun auch mit den neuen Kameraden und Lehrern ein ganz normales Zusammenleben führen. In unserem Dorf erkannte ich jeden Einwohner schon an seinem Schritt, seiner Stimme oder bei näherem Kontakt an seiner Körperausdünstung, wodurch jede Situation für mich berechenbar war. Als ich dann als Sechsjähriger mit meinen Eltern in der Halle der Volksschule in Lienz auf die Schuleinschreibung wartete und mich die Geräuschkulisse von fast hundert Tafelklässlern beinahe erdrückte, wusste ich, dass meine Angst vor der Schule berechtigt war. Weil es in Amlach keine Volksschule gab, mussten alle Kinder den über drei Kilometer langen Schulweg nach Lienz, der einzigen kleinen Stadt im Umkreis, auf sich nehmen.

Die hallende Akustik in der Aula brachte mein Orientierungssystem komplett durcheinander. Plötzlich war ich vollkommen hilflos und auf die Hand meiner Mutter angewiesen, und zum ersten Mal im Leben konnte ich mich nicht mehr frei bewegen. An dem Stimmengewirr der unzähligen Schüler und Erwachsenen, die ich vor mir, neben und hinter mir, ja sogar über mir vernahm, erkannte ich, dass es sich bei diesem Schulhaus um ein sehr weitläufiges Gebäude mit vielen Treppen und Ebenen handeln musste. Keinen einzigen Schritt wollte ich alleine machen, um ja nicht mit jemandem zusammenzustoßen oder über eine Stufe zu stolpern. Wenn mich nur meine Freunde aus Amlach jetzt nicht in dieser misslichen Lage sahen.

Als dann eine Lehrperson meinen Namen aufrief, begann mein kleines Herz noch viel heftiger und schneller zu klopfen, als es bei meinen tollsten Sprüngen über unsere Schanze oder in den Heuhaufen je geklopft hatte. Nicht weil ich mich vor den Lehrpersonen gefürchtet hätte, nein, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich mir hinter meiner Mutter ohne Missgeschick den Weg durch dieses Menschengewühl bahnen sollte.

Als wir endlich an einem Tisch mit vielen Zetteln und Dokumentenordnern angekommen waren, konnte ich mich wieder etwas entspannen, während meine Eltern sich mit der Frau Direktor und einer Lehrerin unterhielten. Ich schenkte dem Gespräch der Erwachsenen vorerst nicht viel Beachtung, weil ich immer noch versuchte, dem Thema Schule beizukommen, indem ich es einfach ignorierte.

Erst als ich meiner Mutter anhören konnte, dass sie ziemlich ­wütend war, schenkte ich der Diskussion, die sie mit der Schulleitung führte, Aufmerksamkeit. Mir war der Tonfall meiner Eltern von klein auf so vertraut, dass ich – genau wie ein Sehender an der Mimik – allein schon daran erkennen konnte, dass meiner Mutter der Hut bis zur Feder brannte. Die Rede war wieder einmal von der Blindenschule, was für mich bedeuten würde, dass ich meine Eltern, meine Schwester, meine Cousins und Freunde in meinem Heimatdorf verlassen musste, um die nächsten Jahre in der Ferne zu verbringen. Doch ich war mir sicher, dass mich meine Mutter und mein Vater niemals auf eine Spezialschule in die Fremde schicken würden. Auf ihr Versprechen konnte ich mich verlassen.

Von einem Integrationsmodell, bei dem behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden und voneinander lernen, war man in den frühen Siebzigerjahren bei uns in Osttirol noch ziemlich weit entfernt. Die Aussichten, als blindes Kind in dieser Schule in Lienz aufgenommen zu werden, waren daher nicht gerade vielversprechend. Das weckte in mir die leise Hoffnung, vielleicht sogar ganz auf die Schule pfeifen und mich dem uneingeschränkten Genuss des Lebens hingeben zu können: »Wenn schon die anderen Kinder etwas sehen können, ich muss dafür nicht in die Schule gehen.« So einfach hab ich mir die Gerechtigkeit auf dieser Welt vorgestellt. Und war glücklich und zufrieden.

Ich sehnte mich sowieso schon wieder hinaus nach Amlach, in meine kleine Welt, wo ich die Dinge unter Kontrolle hatte. Dieser Tumult hier in der Schule war mir viel zu heftig. Als dann jedoch die Frau Lehrerin Gutwenger mit der Frau Direktor vereinbarte, dass sie versuchen wollte, den kleinen Andy in ihre Klasse aufzunehmen, fiel meinen Eltern ein Stein vom Herzen, und meine bunte Fantasie von der großen Freiheit fand ein jähes Ende. Der Tag, an dem der Ernst des Lebens für mich beginnen sollte, rückte unerbittlich näher, und rasend schnell verging mein letzter Sommer in der Geborgenheit meines Heimatdorfes.