Für Kolya und Leo

Inhalt

Zur Einführung: An die Suchenden

Barfuß zur Quelle

Der erste Wegweiser: die Natur

Der zweite Wegweiser: die Heilige Schrift

Der dritte Wegweiser: franziskanische Tradition

Der vierte Wegweiser: Mystik

Der fünfte Wegweiser: Kontemplation und Aktion

VATER

Begegnung mit dem wilden Gott

Mensch, wo bist du? (Gen 3,9)

Das Leben: wild, kreativ, göttlich

Das heilige Feuer entfachen

Leg deine Schuhe ab (Ex 3,5)

Die Natur als Spiegel der Seele

in praxi: Visionssuche / Quest – über die Schwelle gehen

SOHN

Mit Christus durch das Lebensrad

Das Lebensrad als Orientierungsmodell

Die Wurzeln des Lebensrades

Der Christus im Rad

Nackt dem nackten Christus folgen

Sie küsste seine Füße und salbte sie (Lk 7,38)

Das Geheimnis der Inkarnation

in praxi: Süden – mit dem inneren Kind gehen

Mit dem Schatten tanzen

Verkauf alles, was du hast! (Lk 18,22)

Dem Drachen gegenübertreten

in praxi: Westen – hinabsteigen

Dem Leben dienen

Gebt ihr ihnen zu essen! (Mk 6,37)

Vom Lebenskampf zum Lebenstanz

in praxi: Norden – Rituale gestalten

Dem eigenen Mythos auf die Spur kommen

Brannte uns nicht das Herz? (Lk 24,32)

Begegnung mit dem kosmischen Christus

in praxi: Osten – Geschichten erzählen

HEILIGER GEIST

Von der Askese zur Hingabe

Du bist ein tüchtiger Diener! (Lk 19,17)

Mit Demut und Noblesse

in praxi: Beten

Zum Abschluss: Über den großen Wandel

Dank

Quellen und Literatur

ÜBER DEN AUTOR

ÜBER DAS BUCH

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

Zur Einführung:
An die Suchenden

Die Leute sagen,
dass wir alle nach einem Sinn des Lebens suchen.
Ich glaube nicht, dass es das ist, was wir wirklich suchen.
Ich glaube, was wir suchen,
ist eine Erfahrung des Lebendigseins.
Joseph Campbell

»Ach, wenn mir nur gruselte!«, sagt der Furchtlose im Grimmschen Märchen immer wieder. Er zieht in die Welt, um das Fürchten zu lernen, aber nichts vermag seine Furcht zu erregen. Keine Gespenster und nicht einmal die Toten. Am Ende ist es seine Gemahlin, die ihn erlöst. Er ist mittlerweile König und sehr reich. Als er schläft, zieht sie seine Bettdecke zurück und überschüttet ihn mit einem Eimer kalten Wassers voller zappelnder Fische. »Nun weiß ich, was Gruseln ist!«, sagt der Erwachte.

In religiöser Hinsicht gleichen viele Menschen heute dem Furchtlosen. Kaum etwas in der Welt erscheint ihnen noch geheimnisvoll, numinos und in dem Sinne furchterregend. Was sollte uns auch – bei vernünftiger Betrachtung – Angst einjagen? Die Dunkelheit? Ein Gewitter? Die Tiefen des Meeres? Oder vielleicht die unendlichen Weiten des Weltalls? Wir entzünden ein Licht, leiten den Blitz ab, schweben in Metallröhren durch die Atmosphäre und haben schon auf dem Mond unsere Fußspuren hinterlassen. Zwar gibt es Ereignisse wie Naturkatastrophen und unglückliche Unfälle. Aber weder Zufall noch Unfall ändern grundsätzlich etwas an der Art, wie wir in der Welt sind.

Wir sind aufgeklärt und in gewisser Hinsicht auch abgeklärt. Wir haben alles unter Kontrolle. So scheint es. Und so gleichen wir dem Furchtlosen im Märchen. Er ist am Ende ein reicher König – und doch leidet er einen Mangel. Es gehört zu den Phänomenen unserer Zeit, dass trotz all der Möglichkeiten, Errungenschaften und Reichtümer viele Menschen in den westlichen Industrienationen eine mysteriöse Leere erfahren. Etwas fehlt. Eine tiefe Sehnsucht bleibt unerfüllt. Es ist, als ob eine wesentliche Lebenserfahrung nicht (mehr) möglich ist. Nicht alle spüren das gleichermaßen. Aber es gibt Suchende.

An die Suchenden richtet sich dieses Buch. Ich möchte behaupten: Was dem Furchtlosen da abgeht, ist im Grunde nichts anderes als »eine Erfahrung des Lebendigseins«, wie der Mythenforscher Joseph Campbell sie beschreibt: eine Erfahrung, bei der »unsere Lebenserfahrungen auf der rein physischen Ebene in unserem Innersten nachschwingen«. Ich möchte das eine echte spirituelle Erfahrung nennen. Spiritualität kommt von »spiritus«, »Geist«. Eine geistliche Erfahrung berührt das Herz, um es mit einem Begriff aus der jüdisch-christlichen Tradition zu sagen, unseren innersten Wesenskern. Das Herz ist das Zentrum unserer Existenz. Kurzum: Viele Erfahrungen, die wir modernen Menschen machen, berühren unser Herz nicht wirklich. Wir versuchen vielleicht, uns mit künstlichen Abenteuern, gekauften Höhenflügen zu befriedigen. Aber das wirkt nicht nachhaltig.

Für viele Generationen vor uns war der christliche Glaube ein Schlüssel zu jener tiefen »Erfahrung des Lebendigseins«, der geistliche Schlüssel zu einem »Leben in Fülle« (Joh 10,10), von dem Jesus spricht. Was ist daraus geworden? Mindestens in Westeuropa steckt das Christentum in einer Krise. Es wirkt seltsam blutleer. Religion ist hier weitgehend reduziert auf theoretische Fragen und leere Rituale. Viel zu viel wird über den Schlüssel geredet. Es geht um die richtige Lehre über Gott, Jesus, den Heiligen Geist. Aber immer weniger Menschen verbinden mit diesen Worten überhaupt noch eine Erfahrung. Und ein Gott, der nicht erfahrbar ist, existiert auch nicht. Fast scheint in Vergessenheit zu geraten, wozu der Schlüssel da ist und in welches Schloss er passen könnte.

Viele wenden sich heute vom Christentum ab. Hinter vordergründiger Gleichgültigkeit sitzen vielfach schlechte Erfahrungen. Viele sind im Namen der Kirche und der Nächstenliebe schlecht behandelt worden, was auch immer das im Einzelnen heißt. Anderen ist Religion schlichtweg gleichgültig. Niemand vermochte offenbar je, ihnen überzeugend darzulegen, wofür Religion gut sein soll. Zu guter Letzt trägt heute ein Terrorismus im pseudo-religiösen Gewand beständig dazu bei, dass sie Religion per se für gefährlich halten. Dass viele vom Christentum nichts mehr erwarten, ist vor diesem Hintergrund nur zu verständlich.

Es gibt auch Menschen, die zwar spirituell auf der Suche sind, dabei aber einen großen Bogen um die christliche Tradition machen. Sie nehmen Zuflucht im Buddhismus, in indianischen oder anderen Traditionen oder auch Mischformen aus alledem. Sie müssen dabei ertragen (wenn sie das überhaupt interessiert), dass die offiziellen Vertreter der Kirchen entweder auf sie herabschauen oder aber versuchen, mit angepassten Angeboten ihr Interesse zu wecken. Da gibt es dann Zen-Meditation in christlichen Bildungshäusern. Oder schamanisch-indianische Retreats, bei denen abschließend noch ein Vaterunser gebetet wird. Um nicht missverstanden zu werden: Gegen die Freiheit, andere Traditionen kennenzulernen und sich inspirieren zu lassen, gibt es gar nichts einzuwenden. Allerdings bleiben auch diese Versuche künstlich und oberflächlich, wenn sie keine stimmige Verbindung zu den eigenen Wurzeln herzustellen vermögen.

Ich meine, es ist Zeit, sich die Religion der eigenen Väter und Mütter, Großväter und Großmütter (wieder) anzueignen. Umfassend. Die Aufforderung dazu kommt sogar von nichtchristlicher Seite. Der Dalai Lama etwa füllt in Deutschland Stadien und könnte sich doch freuen, dem Buddhismus so viele neue Anhänger zuzuführen. Er ruft stattdessen bei seinen Unterweisungen dazu auf, nicht zum Buddhismus zu wechseln, sondern zuerst die Erfüllung in der eigenen Religion zu suchen. Folgt man dem Dalai Lama, bedeutet Religionsfreiheit nicht nur, seine Religion frei zu wählen. Vielmehr geht es auch um die Freiheit, die eigene Religion an sich zu nehmen und – gleichsam von innen her – sich wieder zu eigen zu machen. Ähnliche Impulse kommen derzeit auch aus dem Vatikan. Papst Franziskus weist in seinem Apostolischen Schreiben »Evangelii gaudium« auf den »Spürsinn« der Gläubigen hin (EG 31). Dem sind die Bischöfe aufgefordert zu folgen wie Hirten, die der Herde nachziehen, weil die am besten weiß, wo die saftigsten Weidegründe liegen. Das brächte allerdings eine Umkehrung der gewohnten Verhältnisse: Im Mittelpunkt stünde dann das Leben der Gläubigen und nicht mehr die Institution Kirche, auf die alles ausgerichtet ist und um die sich alles dreht.

Es ist Zeit, das Christentum wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es ist Zeit, das heilige Feuer wieder zu entfachen. Und dieses Buch will einen Beitrag leisten zum Aufrühren der Glut. Es ist eine Einladung, die alten Schuhe und Schutzhäute abzustreifen und den »Spürsinn«, von dem der Papst spricht, zu wecken. Wer »barfuß« geht, spürt den Weg unter den Fußsohlen und verlagert seine Aufmerksamkeit ganz von selbst praktisch vom Kopf in die Füße. »Barfuß« steht symbolisch für eine Haltung, die sich unmittelbar berühren und einbeziehen lässt und nicht in der Rolle des Zuschauers bleibt. Es bedeutet, Sicherheiten und Vorstellungen beiseitezulegen und bereit zu sein für den »heiligen Boden« (Ex 3,5), auf dem eine Begegnung mit dem Göttlichen ihren Ort finden kann.

Am Ende ist es im Märchen ein Eimer Wasser mit Fischen, der den Furchtlosen aufwachen lässt. Das »Erwachen« ist ein uraltes Symbol der Mystik. Wasser und Fische? Nichts weiter? Genau das ist vielleicht die Wahrheit, die das Märchen zeigt: Lebendigsein ist nicht unbedingt eine außerordentliche, übernatürliche Erfahrung. Lebendigsein bringt uns in Kontakt mit der Gegenwart. Mit dem Jetzt und Hier. Und umgekehrt: Der unmittelbare Kontakt mit der Gegenwart, dem Hier und Jetzt, lässt uns unser Lebendigsein spüren.

Das Wasser im Märchen symbolisiert das Unbewusste und Wilde. Wenn man so will, stehen die Fische für unsere Bedürfnisse, Wünsche und Triebe, die in unserem Inneren schlummern und von dort aufsteigen. Der Eimer Wasser und die zappelnden Fische ziehen den Furchtlosen mit einem Ruck in die Gegenwart. Man könnte in dem Motiv das Symbol einer sexuellen Erfahrung sehen. Ich möchte das weiter fassen: Es ist, als hätte der Furchtlose sich vorher »nicht gespürt«, wie wir heute sagen. Das heißt, Lebendigsein ist dann erfahrbar, wenn alle Dimensionen unseres Menschseins verbunden sind.

Dieses Buch ist eine Einladung, dem wilden Gott zu begegnen und die eigene »Wildheit« wiederzuentdecken: Verbundensein mit dem Kosmos, Eingebundensein in die Gemeinschaft der Geschöpfe und die Erfahrung von Lebendigsein. Ich gliedere es in drei Teile und folge dabei dem, was alle Christen weltweit eint: der Dynamik der Trinität. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind aufeinander bezogen, und das sagt nichts anderes als: Gott selbst ist Gemeinschaft. »Am Anfang steht nicht die Einsamkeit des Einen, eines ewigen, einzigen, unendlichen Seins. Am Anfang ist die Gemeinschaft der drei Einzigen«, sagt Leonardo Boff (Boff 1990: 21).

Diese Gemeinschaft ist eine universale Wirklichkeit. Das Glaubensbekenntnis bringt das Prozesshafte der Schöpfung und auch des spirituellen Weges des Einzelnen zum Ausdruck. Die Schöpfung ist kein abgeschlossener Vorgang, aus dem sich Gott zurückgezogen hat, um nun als ferner Weltenlenker unserem Treiben zuzuschauen. Wir sind eingeladen, an diesem Prozess und dieser universalen Gemeinschaft teilzunehmen. Vielleicht gelingt es, diesen Prozess im Verlauf des Buches sichtbar und begreifbar zu machen und damit auch den Kern christlicher Überlieferung aus dem Schattendasein theologischer Diskurse ans Licht zu holen.

Dazu kommen Vorschläge für die konkrete spirituelle Praxis. Es sind Übungen und Rituale, die einen Raum öffnen für das Wichtigste: die eigene Erfahrung. Die Initiation in die eigene Spiritualität ist nämlich nicht zuerst eine Orthodoxie, sondern eine Orthopraxie: sich wieder verbinden mit der Kraft des Ursprungs. Im Fluss des Seins den eigenen Standort bestimmen. Versöhnt mit der Wirklichkeit den nächsten Schritt gehen. Dafür lohnt es sich, die Schuhe auszuziehen (vgl. Ex 3,51).

Am 4. Oktober 2017, dem Fest des hl. Franziskus

Jan Frerichs