Andreas Benk

Schöpfung – eine Vision von Gerechtigkeit

Was niemals war, doch möglich ist

Matthias Grünewald Verlag

Für Benjamin und seine Eltern, seine drei Tanten und seinen Onkel: Louisa und Philipp, Anni, Lea, Judith und David

ÜBER DEN AUTOR

Dr. Andreas Benk ist Professor für Katholische Theologie/Religionspädagogik am Ökumenischen Institut für Theologie und Religionspädagogik der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

ÜBER DAS BUCH

Biblische Schöpfungstexte sind Hoffnungsgedichte, Sehnsuchtsbilder und Widerstandsliteratur. Sie konfrontieren die herrschenden Verhältnisse mit einer lebensfreundlichen Utopie.

Andreas Benk entwirft entsprechend eine visionäre, befreiungstheologisch orientierte Schöpfungstheologie: Diese setzt darauf, dass eine Alternative zu globaler Ungerechtigkeit möglich ist. Damit überwindet er die Fixierung auf die Naturwissenschaften.

Stattdessen wird deutlich: Schöpfungstheologie hat radikale Folgen für Lebensstil, Bildung und Politik.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.gruenewaldverlag.de/ISBN978-3-7867-3096-5

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© 2016 Matthias Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

ISBN 978-3-7867-3096-5 (Print)

ISBN 978-3-7867-3097-2 (eBook)

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Inhalt

Vorwort

Einführung

Visionäre Schöpfungstheologie

Übersicht

1. Schöpfungstheologische Restbestände: angepasst, schwer vermittelbar und ideologieanfällig

Schöpfung vom Kindergarten bis zum Schulabschluss

Schöpfung in neueren theologischen Lehrbüchern

Schöpfungsglaube auf Harmonie getrimmt

Blockaden und Vorbehalte gegenüber dem Schöpfungsglauben

Blick ins Archiv: die Engel

Schöpfungstheologie als Sakralisierung der Macht

Notwendige Dekonstruktionen: Autonomie statt Ideologie

Fazit

2. Bis zur Neuzeit: Weltwissen illustriert Schöpfungsglauben

Interkulturelle Brüche

Verschränkung von Religion und Kosmologie

Biblische »Kosmologie«

Platonische und aristotelische Kosmologien

Ptolemäisches System und seine theologische Integration

Vorneuzeitliche Kosmologien und Schöpfungsglaube

3. Seit der Neuzeit: Weltwissen konterkariert Schöpfungsglauben

Emanzipation der Naturwissenschaften von Theologie und Kirche

Verlust der zentralen Stellung von Erde und Mensch

Verlust von Himmel und Erde

Verlust des Paradieses

Verlust einer anschaulichen Wirklichkeit

Fazit

4. Reaktionen von Theologie und Kirchen: Von der Konfrontation zur Immunisierung

Konfrontative Machtdemonstration und Fundamentalismus

Neuscholastische Restauration und Antimodernismus

Theologische Polemik gegen die moderne Physik

Abkopplung und Selbstbehauptung

Anknüpfung und Vereinnahmung

Gottes Geist in der Physik?

Urknall und anthropisches Prinzip – eine Spur Gottes?

Aktuelles Standardmodell: Immunisierung statt Transformation

5. Theologie unter den Bedingungen der Gegenwart

Theologischer Aufbruch und kirchliche Stagnation

Polyvalenz des Christlichen

Fragwürdigkeit

Vielstimmige Bibel und »Wort Gottes«

Theologie unter Vorbehalt

Humanität als Maß der Religionen

Irrelevanz des Gottesglaubens

Übersetzungen in säkulare Sprache

6. Schöpfungstheologische Kontexte der Bibel

Rekonstruktion ursprünglicher Kontexte

Kontext I: Exodustheologie

Schöpfungsvorstellungen in Befreiungsperspektive

Kontext II: Prophetie

Prophetische Visionen: Gericht und Heil

7. Schöpfungstheologie als visionäre Theologie

Schöpfungstexte als Visionen

Die Erde als inklusives Wohnprojekt

Schöpfung als Befreiung

Jesu Botschaft als visionäre Prophetie

Diesseitigkeit: Gerechtigkeit hier und jetzt

Schöpfung in säkularer Sprache

8. Konsequenzen visionärer Schöpfungstheologie

Theologische Weichenstellungen

Sozialethische Kontexte

Geschärfte Aufmerksamkeit und Aktion

Aufdeckung unserer Verstrickung

Politische Relevanz

Gerechtigkeitsbildung in globaler Perspektive

Widerstand

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Schöpfung? Ein Missverständnis. Bei Schöpfung geht es nicht um ­Weltentstehung und längst nicht nur um Umweltschutz. Wer Schöpfung sagt, fordert globale Gerechtigkeit. Wer auf Schöpfung setzt, entscheidet sich zum Widerstand gegen eine verkehrte Welt und besteht darauf, dass es zu ihr eine lebens- und menschenfreundliche Alternative gibt. Das ist der Inhalt des vorliegenden Buches.

Christlichem Glauben gelingt es in unserer Gesellschaft immer weniger, sich verständlich zu machen. Was Christinnen und Christen glauben – oder präziser: was man meint, dass sie glauben – halten viele für so naiv, rückständig und unaufgeklärt, dass es Menschen unserer Zeit nicht mehr zumutbar erscheint. Ein besonderes Reizwort ist dabei der Begriff Schöpfung, der die Vorbehalte gegenüber religiösen Vorstellungen gebündelt auf sich zieht. Vielen, denen religiöser Glaube unzugänglich bleibt, belegt gerade die Rede von Welt und Mensch als Schöpfung Gottes die Unzumutbarkeit solchen Glaubens. Alle Beteuerungen von theologischer Seite, dass sich der Schöpfungsgedanke durchaus mit einem modernen Weltbild vereinbaren lasse, konnten nichts daran ändern.

Die zahllosen Versuche der Theologie, in den vergangenen Jahrzehnten die gegenseitige Ergänzung oder Komplementarität von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und biblischem Schöpfungsglauben zu ­verdeutlichen, blieben erfolglos. Nach innen konnten sie zwar die Spannungen zwischen modernem Weltbild und herkömmlichem Glauben mildern, nach außen blieben sie aber weitgehend ohne Wirkung. Die Publikationen, Arbeitskreise und Akademietagungen zu »Schöpfung und Evolution«, »Religion und Naturwissenschaft« oder auch »Urknall oder Schöpfung?« zeitigten keinen Erfolg. Stattdessen macht sich Überdruss breit. Die ständige Wiederholung, dass Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliches Wissen sich bereichern können und je unterschiedliche Dimensionen der Wirklichkeit aufdecken, ermüdet die einen und vermag die anderen nicht zu überzeugen. Der sogenannte Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften steckt genauso in einer Sackgasse wie der zwischen traditionell Gläubigen und Areligiösen. Das Scheitern, den Begriff Schöpfung für unsere Zeit und Gesellschaft in nachvollziehbarer Weise zu übersetzen, ist ein Indiz dafür.

Vorliegende Publikation benennt zunächst die verständlichen Gründe, warum die traditionelle Vorstellung, dass Welt und Mensch Gottes Schöpfung seien, heute – anders als zu früheren Zeiten – keine schiere Selbstverständlichkeit bedeutet, sondern als Zumutung empfunden wird. Im Anschluss daran wird gezeigt, wie der Schöpfungsgedanke aus neuer Perspektive – die zugleich eine ursprünglich biblische ist – Sinn zurückgewinnt und in heutige Sprache übersetzt werden kann. So verstandener Schöpfungsglaube bedeutet weiterhin eine Zumutung, aber diese Zumutung ist von neuer Qualität. »Schöpfung« drückt die Hoffnung aus, dass alles ganz anders sein könnte: gerechter, lebensfreundlicher, menschlicher. Der Schöpfungsgedanke ruft damit auf zu organisiertem Widerstand gegen ein globales Apartheidsystem, das mit teils brutalen, teils perfiden Methoden die Welt in Profiteure und Opfer separiert. Es hängt von uns ab, ob sich etwas ändert. Ob aber alles je gut, uneingeschränkt gut werden könnte, liegt nicht mehr in unseren Händen und weiß kein Mensch. –

Diese Publikation wurde von vielen Seiten unterstützt: Der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd danke ich für die Gewährung eines Forschungssemesters im Sommersemester 2015. Diese Entlastung für mich bedeutete in unserem kleinen »Ökumenischen Institut für Theologie und Religionspädagogik« eine zusätzliche Belastung meiner Kolleginnen und Kollegen. Dafür bedanke ich mich genauso wie für die hilfreichen Hinweise unserer gemeinsamen »Theologischen Sozietät«, der ich Grundgedanken meiner Arbeit vorstellte. Unser starkes Team, das gegenwärtig in alle Winde zerstreut ist, sei ausdrücklich genannt: Dr. Anke Edelbrock, PD Dr. Iris Mandl-Schmidt, Dr. Gabriele Theuer, Prof. Dr. Martin Weyer-Menkhoff und PD Dr. Axel Wiemer. Besonderer Dank gilt dem Leiter unserer Bibliothek, Jörg Geske, der mir für einige Monate Sonderkonditionen bei der Ausleihe einräumte, sowie seinen engagierten Mitarbeiterinnen, denen meine Fernleihwünsche Kontakte zu ungezählten Bibliotheken bescherten.

Akademische Arbeit an einer Hochschule kennt keine festen Arbeitszeiten. Dieses Privileg geht auch zu Lasten meiner Familie – ich danke ihr einmal mehr für die diesbezügliche Nachsicht, meiner Frau Dr. Monika Benk überdies für kritische Rückfragen und zahlreiche Anregungen, die Spuren in dieser Arbeit hinterlassen haben. Bei Frau Veronika Fischer bedanke ich mich wieder für die sorgfältige Lektüre und Korrektur des Manuskripts. Dem Lektor des Verlags, Herrn Dipl.-Theol. Volker Sühs, danke ich für die sehr angenehme Zusammenarbeit und seine kompetente Unterstützung. Ein ganz spezieller Dank geht an unser erstes Enkelkind Benjamin, neben dessen Gitterbettchen einige Wochen mein Schreibtisch stand. Benjamins (meist zuverlässig schlafende) Präsenz hielt mir vor Augen, dass es visionärer Schöpfungstheologie um die Welt geht, in die er hineinwachsen wird.

Sprache bildet gewollt oder ungewollt Wirklichkeit ab – auch ungerechte Verhältnisse. Sprache kann sich damit begnügen, Wirklichkeit nur zu reproduzieren und in Worte geronnene Ordnungen und Unordnungen insgeheim zu bestätigen. Sprache kann aber auch eine umgestaltete Wirklichkeit vorwegnehmen und die Vision einer lebens- und menschenfreundlichen Welt widerspiegeln. Sprache ist schöpferisch: Sie kann in den Prozess eingebracht werden, der in diesem Buch unter Schöpfung verstanden wird. In diesem Sinn bemühe ich mich um eine faire Sprache. Oft stoße ich dabei an Grenzen. Wo dies der Fall ist, kann es wenigstens zum Nachdenken anregen.

Bei Bibelzitaten folge ich in der Regel der Einheitsübersetzung. Der Gottesname הוהי wird dabei aber nicht als »Herr« wiedergegeben, sondern als transkribiertes Tetragramm JHWH belassen.

Herlikofen, im Januar 2016 Andreas Benk

Einführung

»Schöpfung« ist nicht ein beliebiges theologisches Thema neben anderen Themen, sondern theologisches Schlüsselthema. Das Alte Testament beginnt mit einem feierlichen Schöpfungshymnus: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; […] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild […]. Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut« (Gen 1,1.27a.31a). Es folgt die Erzählung vom Garten Eden, in den Gott den Menschen setzt, damit er ihn bebaue und hüte (vgl. Gen 2,15). Bedeutende Schöpfungstexte finden sich unter den Psalmen, im Buch Jesaja, im Buch der Sprichwörter sowie in den Büchern Ijob und Kohelet. Schöpfung und Neuschöpfung spielen auch im Neuen Testament eine zentrale Rolle. Die Hoffnung auf das schöpferische Handeln Gottes und das Vertrauen auf Gottes Fürsorge für seine Geschöpfe bilden den Horizont für Jesu Botschaft vom »Reich Gottes« und für seine ethischen Weisungen. Nach Paulus ist Gott aufgrund seiner Schöpfungswerke für jeden Menschen erkennbar (vgl. Röm 1,19f.); die gegenwärtige Schöpfung liege in Wehen und schreie unter Geburtsschmerzen (vgl. Röm 8,22), doch mit Jesus sei eine neue Schöpfung bereits angebrochen (vgl. 2 Kor 5,17). Der Kolosserhymnus entfaltet den Gedanken von Christus als Erstgeborenem der ganzen Schöpfung: in ihm, durch ihn und auf ihn hin wurde alles erschaffen (vgl. Kol 1,15–17, vgl. Joh 1,1–3). Das letzte Buch des Neuen Testaments entwirft schließlich die Vision eines »neuen Himmels und einer neuen Erde« (Offb 21,1); in dieser neuen Schöpfung »wohnt« die Gerechtigkeit (vgl. 2 Petr 3,13).

Angesichts der biblischen Bedeutung der Schöpfungsthematik ist es nicht verwunderlich, dass der Schöpfungsglaube auch einen prominenten Platz in den christlichen Bekenntnissen einnimmt. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das fast allen christlichen Konfessionen gemeinsam ist, heißt es gleich zu Beginn: »Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde«; ähnlich im nicäno-konstantinopolitanischen Bekenntnis, das auf das 4. Jahrhundert zurückgeht: »Wir glauben an den einen Gott, den allmächtigen Vater, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.« Dies belegt: christlicher Glaube kann der Frage, wie die biblischen Schöpfungstexte verstanden wurden und wie Schöpfungsglaube heute gedeutet werden kann, nicht ausweichen. Es besteht für die christliche Theologie diesbezüglich Auskunftspflicht.

Darüber hinaus ist Schöpfung nicht nur ein theologisches, sondern auch ein religionspädagogisches Schlüsselthema. An der Frage, ob Mensch und Welt Schöpfung Gottes sind, entscheidet sich für viele Menschen, wie sie insgesamt zum Gottesglauben stehen. Für Kinder bis zum frühen Grundschulalter ist der Glaube an einen Schöpfergott meist noch unproblematisch, da sie entwicklungspsychologisch zum Artifizialismus tendieren: Alles, was ist, ist demnach künstlich hergestellt. Auf diese Weise können sich Kinder auch die Herkunft der Welt am einfachsten erklären. Die wortwörtlich verstandenen biblischen Schöpfungserzählungen passen genau in dieses Bild: Alles, was ist, Himmel und Erde mitsamt den Menschen, Tieren und Pflanzen hat Gott gemacht. Spätestens in der Jugendzeit erweist sich dieser Glaube unter dem Eindruck erweiterter naturwissenschaftlicher Kenntnisse nicht mehr als trag- und entwicklungsfähig. »Also wenn jemand so sagt: ›Gott hat die Welt erschaffen‹«, meint zum Beispiel ein achtzehnjähriger römisch-katholisch getaufter Gymnasiast, »dann sag’ ich eben: ›Tut mir leid, das kann nicht sein, es ist inzwischen bewiesen, dass Gott die Welt nicht erschaffen hat.‹« Die Behauptung, biblische Schöpfungsaussagen und Evolution seien vereinbar, qualifiziert er rundheraus als »Schmarrn, weil man […] das nicht unter einen Hut bringen [kann]«1. Nicht nur der kindliche Schöpfungsglaube, sondern christlicher Glaube überhaupt verliert in der Folge seine Glaubwürdigkeit. Über diese Sicht kommen viele Menschen ihr Leben lang nicht mehr hinaus. Während früher vor allem die Theodizeefrage Glaubenszweifel auslöste, scheint heute eher die Infragestellung Gottes als Schöpfer von Welt und Mensch ein maßgeblicher Grund für den Abschied vom Gottesglauben zu sein.2 Bleibt christliche Religionspädagogik hier eine glaubwürdige und nachvollziehbare Antwort schuldig, ist christlicher Glaube unter den Bedingungen der Gegenwart nicht mehr vermittelbar.

Visionäre Schöpfungstheologie

Heute werden die Schöpfungstexte der Bibel unvermeidlich im Kontext naturwissenschaftlicher Erkenntnisse über die Entstehung der Welt und des Menschen gelesen. Im Religionsunterricht suchen engagierte Lehrkräfte bei der Schöpfungsthematik die Kooperation mit den naturwissenschaftlichen Fächern. Im Physikunterricht können dann begleitend die gängigen Modelle zur Entstehung des Kosmos behandelt werden, im Biologieunterricht die Evolution des Lebens. Doch die naturwissenschaftliche Einbettung des Themas führt die Schülerinnen und Schüler auf die falsche Fährte und verfehlt den ursprünglichen Sinn biblischer Schöpfungstexte. Um diesen Sinn freizulegen, müssen diese Texte wieder in ihrem entstehungsgeschichtlichen und biblischen Zusammenhang verstanden werden.

Wichtige Schöpfungstexte sind im babylonischen Exil entstanden. Nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde die politische und wirtschaftliche Elite Judas nach Babylon deportiert. Die Exilierten lebten dort nicht nur in schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen als zuvor in Jerusalem, sondern sie litten vor allem unter ihrer kulturellen Entwurzelung und dem Verlust ihrer sozialen Stellung. Angesichts derart bedrückender Umstände diente Schöpfungstheologie nun als eine Theologie der Hoffnung. Die großen biblischen Erzählungen von Schöpfung und Neuschöpfung der Welt illustrierten den Deportierten die Vision einer gottgewollten Welt, die ganz anders gestaltet ist, als sie von ihnen erlebt wurde.

Biblische Schöpfungstexte sind Ausdruck der Sehnsucht nach einem guten Leben. Sie sind Hoffnungsgedichte, Sehnsuchtsbilder und Protestgesänge angesichts einer unerträglichen Gegenwart. Den herrschenden Verhältnissen setzen sie kontrafaktisch visionäre Utopien entgegen – darin liegt ihre kritische Pointe. Schöpfungstexte sind nicht daran interessiert, wie die Welt und der Mensch entstanden sind. In Schöpfungstexten spiegeln sich die Visionen alttestamentlicher Prophetie, dass wider allen Anschein und »trotz allem« eine andere, eine gute und gerechte Welt möglich ist. Diese Welt ist zugleich die eigentlich gottgewollte Welt. In scharfem Kontrast zur Wirklichkeit malen die Hymnen von der Schöpfung und die Erzählung vom Garten Eden aus, wie die Verhältnisse auf Erden sein sollten, sein könnten und Gott sei Dank sein werden. Sie sind keine weltflüchtigen Illusionen, sondern orientierende, praxis- und politikrelevante Widerstandsliteratur und Hoffnungstexte.

Wie zu biblischen Zeiten zielt Schöpfungstheologie auch heute auf die Gegenwart: Visionäre Schöpfungstheologie deutet die Schöpfungstexte als utopische, das heißt als noch nie und nirgendwo realisierte Gegenentwürfe zu den herrschenden Verhältnissen und liest sie in diesem Sinn als gegenwartskritische politische Manifeste. Diese Texte stehen in der Tradition prophetischer Empörung über die lebensfeindlichen und menschenverachtenden Machenschaften dieser Welt und entwerfen stattdessen das Bild einer gottgewollten, lebensfreundlichen Welt. Visionäre Schöpfungstheologie proklamiert: eine Alternative ist möglich – hier und jetzt. Die angeblich alternativlosen Reaktionen auf die globalen Krisen und die damit verbundenen extremen sozialen Ungerechtigkeiten konfrontiert sie mit einem Denken, das sich konsequent am Weltgemeinwohl und nicht nur an privaten und nationalen Interessen orientiert. Schöpfungstheologie hält damit an der biblischen Vision fest, dass die Erde tatsächlich als gemeinschaftliches Haus für alles Leben gestaltet werden kann. Das ist eine ungleich größere Herausforderung und Zumutung als der akademische Streit, der schöpfungstheologisch völlig irrelevant ist, wie die Welt entstanden ist. Das Thema, das visionäre Schöpfungstheologie aufschlägt, ist das Projekt einer wahrhaft befreiten Weltgemeinschaft: Dieses Projekt betrifft uns alle, bringt uns in Verlegenheit und setzt uns unter Zugzwang, weil es uns eine radikale Umkehr zumutet.

Schöpfungstheologie erweist sich somit als eine Variante der Befreiungstheologie. Die mit »Befreiung« und »Schöpfung« verbundenen biblischen Vorstellungen weisen nach traditioneller Lesart allerdings in verschiedene Richtungen.3 Schöpfung scheint zurückzuweisen in eine ursprünglich heile Welt, der nachgetrauert wird, die aber unwiederbringlich verloren ist. Der Schöpfungsgedanke wirkt dann als lähmende Erinnerung, die an geschichtlich Überholtem festhält, ohne Kräfte für eine tatsächliche Erneuerung zu mobilisieren. Das Urbild biblischer Befreiungserfahrung ist dagegen der Exodus, der Aufbruch Israels aus dem »Sklavenhaus« in die Freiheit. Befreiung im Sinne biblischer Exodustradition weist nach vorne, protestiert gegen bestehende Knechtschaft, weckt Hoffnung auf Veränderung und ruft zum Aufbruch. Viele, die von Schöpfung sprechen, wollen dagegen nur retten, was noch zu retten ist. Dies ist oft gerade zum Nachteil derer, die unter den herrschenden Verhältnissen besonders darben und leiden. Wer stattdessen einen Exodus fordert, setzt darauf, dass der Auszug aus den gegebenen ausbeuterischen Strukturen und eine tatsächliche Befreiung möglich sind. Unter dem Zeichen des Exodus steht die prophetische Kritik an einer desolaten Gegenwart, die für Wenige unbefriedigenden Luxus und für Viele das Verderben bereithält.

Wie unversöhnt biblische Schöpfungs- und Befreiungstheologie nebeneinander zu stehen scheinen, belegen die diesbezüglich unabgeglichenen Äußerungen von Papst Franziskus. Mit scharfen prophetischen Worten geißelt er schonungslos die wirtschaftlichen und politischen Missstände unserer Zeit, ergreift Partei für die Opfer eines Systems, dessen Profiteure über Leichen gehen. Das ist Exodustheologie, Befreiungstheologie, die zum Widerstand und zur Umkehr bläst. Doch Franziskus, der sich in diesem Zusammenhang so unbeirrt für Menschenrechte einsetzt, irritiert zugleich durch verletzende Bemerkungen zur Rolle der Frauen und zu Homosexuellen. Der Papst argumentiert dabei teils ausdrücklich, teils implizit schöpfungstheologisch: das eine sei so in der Schöpfungsordnung festgelegt, das andere hingegen schlicht nicht vorgesehen und nur noch ein Fall für christliche Barmherzigkeit. Franziskus veranschaulicht damit in seinen auseinanderdriftenden Äußerungen die unterschiedlichen Zielrichtungen, die sich mit »Schöpfung« und »Befreiung« bzw. »Exodus« zu verbinden scheinen – und es ist ein Segen, dass die prophetische Exodustheologie von Franziskus bislang seine Schöpfungstheologie in den Schatten stellt und dass selbst seine Schöpfungsenzyklika »Laudato si« befreiungstheologisch inspiriert ist.

Denn es stellt sich ja die Frage, ob ein unvereinbares Gegeneinander von Exodus- und Schöpfungstheologie tatsächlich auch biblisch begründet ist. Die These des vorliegenden Buches ist, dass dies keineswegs der Fall ist.4 Schöpfungstheologie für die Rechtfertigung geschichtlich gewordener und damit immer auch fragwürdiger Verhältnisse in Anspruch zu nehmen, widerspricht der Intention biblischer Schöpfungstexte. Ganz im Gegensatz dazu kann und muss biblische Schöpfungstheologie aus der Perspektive des Exodus verstanden werden. Angesichts entmutigender bzw. empörender Umstände eröffnen biblische Schöpfungstexte wie die Exodustradition und die alttestamentliche Prophetie eine Hoffnungsperspektive. Schöpfungs- und Befreiungstheologie arbeiten einander nicht entgegen, sondern zielen in ein und dieselbe Richtung: Es geht ihnen um die Überwindung untragbarer Verhältnisse und um die Gestaltung einer wahrhaft gerechten Welt. In religiöser Terminologie ausgedrückt heißt dies: Es geht ihnen um eine Welt, wie sie von Gott gewollt ist.

Doch wer heute von Schöpfung spricht, kommt meist gar nicht dazu, vorstehende Gedanken zu begründen und zu entfalten. Denn die Vorstellungen, die bei dem Begriff Schöpfung unweigerlich aufgerufen werden, stoßen bei vielen Menschen umgehend auf bares Unverständnis und werden als intellektuelle Zumutung empfunden. Das hat gute Gründe, die benannt werden können und anerkannt werden müssen. Dies geschieht in den ersten Kapiteln der vorliegenden Arbeit. Im Anschluss daran sind grundsätzliche Überlegungen notwendig, wie unter den Bedingungen der Gegenwart überhaupt noch christliche Theologie betrieben werden kann. Dann erst kann das Konzept einer befreiungstheologisch orientierten Schöpfungstheologie biblisch begründet, theologisch entfaltet und in seinen Konsequenzen skizziert werden.

Übersicht

Daraus ergibt sich für vorliegendes Buch folgender Gedankengang:

Das erste Kapitel dient einer knappen Bestandsaufnahme, was heute unter Schöpfung gelehrt und verstanden wird. Eine auf Harmonie getrimmte Schöpfungstheologie ist demnach zwar bemüht, Konflikte mit dem intellektuellen Mainstream zu vermeiden, stößt aber dennoch auf Skepsis. Die heute gelehrte Schöpfungstheologie stellt freilich nur noch einen Restbestand traditioneller Schöpfungslehren dar. Insbesondere die in älteren Schöpfungstraktaten breit ausgeführte Lehre von den Engeln fristet heute ein Schattendasein. Am Beispiel dieser Lehre, der sogenannten Angelologie, kann aber gezeigt werden, wie Schöpfungstheologie zur Legitimierung und Sakralisierung gegebener Machtverhältnisse missbraucht wurde – mit Folgen, die die hierarchische Ämterstruktur der römisch-katholischen Kirche bis heute prägen. Dies mahnt zur Vorsicht auch für vorliegende Arbeit: Schöpfungstheologien sind ideologieanfällig.

Das zweite Kapitel führt aus, dass die maßgeblichen vorneuzeitlichen Weltbilder bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsame Züge aufweisen, die einzelne Aspekte des herkömmlichen Schöpfungsglaubens anschaulich illustrieren konnten. Wer sich seiner Stellung und besonderen Bedeutung in Gottes großer Schöpfung vergewissern wollte, musste nur zum Himmel blicken. Was dort gesehen wurde, bestätigte, was geschrieben stand und was Astronomie und Philosophie über den Kosmos lehrten. Kosmologie und Schöpfungsglaube passten zusammen und ergänzten sich: Im kosmischen Standort des Menschen spiegelte sich seine Wertschätzung durch Gott. Der Mensch ist gewollt, wichtig und bedeutsam, er steht unter der Obhut Gottes im Zentrum einer von Gott wohlgeordneten Welt.

Das dritte Kapitel zeigt, dass sich diese Entsprechungen von Schöpfungsglauben und Kosmologie seit der Neuzeit durch naturwissenschaftliche Entdeckungen Zug um Zug verflüchtigten. Verloren ging nicht nur die zentrale Stellung des Menschen durch die Entgrenzung des Weltalls. Verloren gingen auch die kosmologische Unterscheidung von irdischer und lokalisierbarer himmlischer Sphäre sowie die Vorstellung eines ursprünglich guten und gewaltfreien Anfangs des Lebens auf der Erde. Anders als einst illustriert heutiges Weltwissen bestimmte Aspekte des Schöpfungsglaubens nicht mehr, sondern konterkariert diese. Insbesondere die Bedeutung des Menschen als Sinnziel von Gottes Schöpfung findet in der Geschichte und in der räumlichen Gestalt des Universums keine anschauliche Entsprechung mehr. Genau dies ist der Grund, warum heute Schöpfungsglaube immer mehr Menschen nicht mehr plausibel erscheint.

Das vierte Kapitel befasst sich mit den kirchlichen und theologischen Reaktionen auf das neue naturwissenschaftliche Wissen. Diese reichten von konfrontativen Machtdemonstrationen verbunden mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis bis zur heute üblichen Immunisierung gegen jedwede neue naturwissenschaftliche Erkenntnis durch ihre schöpfungstheologische Vereinnahmung. Allen Reaktionen ist gemeinsam, dass die Verteidigung des Schöpfungsglaubens vornehmlich in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften gesucht wurde. Die Schöpfungstheologien arbeiten sich seit Jahrhunderten an diesen Wissenschaften ab, versuchen deren Kritik zu entkräften und entwickeln immer neue Modelle der Verträglichkeit von Theologie und Naturwissenschaft. Trotz wechselnder Verteidigungsstrategien ist es christlicher Theologie aber bis heute nicht gelungen, eine Vorstellung von unserer Welt als Schöpfung Gottes zu entwerfen, die sich angesichts der zunehmenden Bestreitung des Schöpfungsgedankens behaupten konnte. Durch ihre Fixierung auf die Naturwissenschaften wurden die Schöpfungstheologien überdies verleitet, Akzente zu setzen, die die ursprüngliche Intention biblischer Schöpfungstheologie verdunkelten.

Schöpfungstheologie ist eingebunden in das Ganze der Theologie. Das fünfte Kapitel befasst sich darum mit grundsätzlichen Erwägungen, wie unter den Verhältnissen der Gegenwart christliche (Schöpfungs-)Theologie überhaupt noch betrieben werden kann und welche Voraussetzungen Theologie beachten muss, wenn sie sich in der gegenwärtigen Weltsituation bewähren und Glaubwürdigkeit verdienen will. Dazu zählt insbesondere die Anerkennung von Humanität als die einzige im strengen Sinn kategorische, das heißt bedingungslose Voraussetzung jeder christlichen Theologie. Alle möglichen anderen Ansprüche werden dadurch begrenzt: was Menschlichkeit schmälert, hat in Theologie und Religionspädagogik nichts verloren. Als eine Konsequenz wird sich daraus ergeben, dass Gottesglaube weder notwendige noch hinreichende Bedingung für das ist, worum es christlicher Theologie im Kern geht. Darum ist christliche Theologie heute aufgefordert zu erläutern, was sie meint, wenn sie von der Welt als »Gottes Schöpfung« spricht, und inwiefern dadurch das Wesentliche christlicher Hoffnung zum Ausdruck gebracht wird. Diese Erläuterung muss in einer Sprache geschehen, die verständlich ist – verständlich nicht allein den theologisch Geschulten und den Frommen, sondern auch denen, die sich selbst als religionslos oder areligiös verstehen, und denen religiöse Sprache unzugänglich ist.

Das sechste Kapitel entfaltet in großen Zügen die biblischen Kontexte, in denen die Schöpfungstexte zu lesen sind. Dazu wird gezeigt, dass der biblische Gott zuerst und vor allem ein Befreiergott ist und dass die Exodustradition im Alten und Neuen Testament eine ganz hervorgehobene Stellung einnimmt. Es wird weiter ausgeführt, dass Israels Propheten und Prophetinnen maßgeblich daran mitwirkten, den Grundbestand der Tora JHWHs zu formulieren. Sie deckten Missstände ihrer Zeit auf, unterzogen sie scharfer Kritik, drohten den Verantwortlichen mit den heillosen Konsequenzen ihres Tuns, die sich daraus ergeben würden. Die alttestamentliche Prophetie beließ es aber nicht bei Kritik und Straf­androhung. Der deprimierenden Gegenwart stellte sie Visionen entgegen, wie alles ganz anders werden könnte: fair, menschlich, lebensfreundlich. Mehr noch, diese Prophetie setzte darauf, dass diese Alternative zum Bestehenden nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich wirklich werden würde.

Damit ist nun der biblische Horizont aufgespannt, vor dem im siebten Kapitel Schöpfungstexte als visionäre Theologie verstanden werden können. Wie die prophetischen Visionen illustrieren auch die großen biblischen Erzählungen von Schöpfung und Neuschöpfung der Welt die Hoffnung, dass die Welt ganz anders sein könnte, als sie gegenwärtig ist. Schöpfungstexte sprechen zwar von den Anfängen des Kosmos, aber sie wollen die Gegenwart gestalten im Horizont eines gottgewollten utopischen Entwurfs: einer lebensfreundlichen und gerechten Welt. Biblische Schöpfungstheologie hofft auf Rettung und Befreiung. Damit ist ihre Botschaft eben kein Gegenprogramm zur Exodustradition und zur alttestamentlichen Prophetie, sondern teilt in einem ganz entscheidenden Punkt deren Anliegen. Des Weiteren wird in diesem Kapitel ausgeführt, dass auch Jesu Botschaft vom nahenden und schon angebrochenen Gottesreich, seine Gleichnisse und sein heilendes Wirken genauso wie das von ihm als Konsequenz geforderte Ethos auf der Linie biblischer Prophetie und Schöpfungstheologie liegen. Jesu Reich-Gottes-Prophetie kann verstanden werden als aktualisierende Dramatisierung visionärer Schöpfungstheologie. So wie sich Exodustheologie, biblische Prophetie und Jesu Botschaft nicht auf ein weltfernes Jenseits, sondern auf unsere gegenwärtige Welt beziehen, weisen auch die biblischen Schöpfungstexte weder zurück in eine längst verlorene Vergangenheit noch fort in eine illusionäre, unerreichbare Zukunft. Schöpfungstexte sind vielmehr Visionen, die unsere Welt im Blick haben und diese umgestalten wollen. Hier und jetzt soll Gottes gerechte Welt Wirklichkeit werden.

Das achte Kapitel beschreibt Konsequenzen, die sich aus Perspektive visionärer Schöpfungstheologie ergeben. Wer für den Wahrheitsanspruch biblischer Schöpfungstexte eintritt, braucht sich nicht an astrophysikalischen Weltmodellen oder an den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie abzuarbeiten. Es geht bei Schöpfung nicht um kosmische oder biologische Evolution, sondern um Gerechtigkeit und Befreiung, das heißt, es geht nicht um naturwissenschaftliche Fragen, sondern um sozialethische Herausforderungen. Kontext heutiger Schöpfungstheologie ist damit die politische und wirtschaftliche Situation der Gegenwart. Maßgebliche Bezugswissenschaft unter den theologischen Disziplinen ist die christliche Sozialethik, Bezugswissenschaften jenseits der Theologie sind nicht in erster Linie die Naturwissenschaften, sondern die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Des Weiteren wird in diesem Kapitel ausgeführt, dass visionäre Schöpfungstheologie eine Form politischer Theologie darstellt, weil sie geradezu zwangsläufig in politisches Engagement zugunsten der Menschenrechte einmünden muss und sich nicht in einer Nische privater Frömmigkeit und religiöser Behaglichkeit einrichten darf. Schließlich wird deutlich gemacht, dass dort, wo die schöpfungstheologische Vision einer befreiten Welt nicht nur rein illusionärer Fluchtpunkt bleiben soll, konkreter und aktiver Widerstand gegen bestehende menschenfeindliche Verhältnisse geboten ist.

Das Konzept visionärer Schöpfungstheologie hat konkrete Auswirkungen, wie Schöpfung in der religiösen Bildung zur Sprache kommt. Durchgängig wird beim Gedankengang dieses Buches Bezug genommen auf Erfahrungen und Beobachtungen im Religionsunterricht, im Theologiestudium und in der Erwachsenenbildung. Wenn es gelingt, in diesen Bildungsprozessen die Schöpfungsthematik aus dem gegenwärtig noch dominierenden naturwissenschaftlichen Kontext herauszulösen und wieder an ihren gesamtbiblischen Zusammenhang heranzuführen, wird der Schöpfungsgedanke in der religiösen Bildungsarbeit wieder die ihm zukommende Brisanz gewinnen. Dann lässt sich in einfachen Worten, die auch nichtreligiösen Menschen verständlich sind, ausdrücken, worum es beim Thema Schöpfung geht: um die Gestaltung einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft, die unsere Erde als gemeinschaftliches Haus allen Lebens begreift.

Globalem Lernen und der Bildung zur Gerechtigkeit wird in der Konsequenz visionärer Schöpfungstheologie eine ungleich gewichtigere Rolle im Rahmen religiöser Bildung zukommen. Diese Form religiöser Bildung steht quer zu allen gesellschaftlichen Entwicklungen, die auf rücksichtslose Profitmaximierung, fortgesetztes Wirtschaftswachstum sowie ungebrochene Konsumorientierung setzen und dabei von unseren Bildungseinrichtungen die Förderung entsprechender Kompetenzen erwarten. Religiöse Bildung sieht sich stattdessen ganz besonders durch den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Verhältnissen bei uns und extremer Verelendung in anderen Regionen der Welt herausgefordert. Vordringlich zu erwerbende religiöse Kompetenzen sind in dieser Perspektive: fremdes Leid wahrzunehmen, entmenschlichende Strukturen und Ausbeutungsmechanismen zu identifizieren, systematische Verschleierung von Interessen zu entlarven sowie verdeckten und offenen Bemächtigungsstrategien zu widerstehen. Darüber hinaus zählen dazu auch die Kompetenzen, Formen effektiven Widerstands gegen lebenszerstörende Strukturen zu erkennen, zu beurteilen, neu zu entwickeln und zu praktizieren, mögliche Bündnisse einzugehen und darin ungeachtet sonstiger weltanschaulicher Differenzen zu kooperieren. Junge Menschen dazu in nicht manipulativer Weise zu befähigen, ist nicht nur schöpfungstheologisch begründet, sondern entspricht auch der urpädagogischen Aufgabe, Kinder und Jugendliche bei ihrer Subjektwerdung zu unterstützen. Derartige leidsensible Bildung zum Widerstand ist kein freudloses Entzugsprogramm, sondern ein erlebnispädagogisches Alternativkonzept, das der Humanisierung von Bildung und Gesellschaft dient. Dieses Bildungsprogramm kann alle Beteiligten mit der Erfahrung beschenken, sich wenigstens partiell dem Anpassungsdruck einer verkehrten Welt entziehen zu können und, »soweit es nur irgend möglich ist, so [zu] leben, wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen«5.